Den Teufel austreiben

Arbeit am Imperfekten: Das Festival „Simple Life“ im Hebbel am Ufer folgt dem Hunger des Theaters nach Leben

Das Unsichtbare sichtbar machen: Das Festivalplakat zeigt einen gepflasterten Stadtplatz aus der Vogelperspektive und zwei verschwommene Passanten darauf. Während man sich noch fragt, wie man das Motiv und den Titel des Festivals „Simple Life“ zusammenfügen kann, entwickelt die Fotografie einen Sog, der den Blick direkt in eine Richtung führt: zwischen die Ritzen der Straßenplatten hindurch unter die Oberfläche.

Der Blick als das Wesentliche: Das Theater hat sich verändert, selbst dort, wo es schon immer anders sein wollte. Die Performer der Achtzigerjahre fühlten sich noch in den Blackbox-Räumen wohl, heute gehen sie auf die Straße, in Privatwohnungen, wo Reaktion und Authentizität schon da sind. Menschen stehen auf der Bühne, die nicht darauf trainiert sind, innere Vorgänge nach außen zu kehren und gerade deshalb die Chance haben, etwas von den Ungereimtheiten unserer Zeit zu erzählen.

Im Rahmen des Festivals „Simple Life“ im HAU sind noch bis Ende der Woche Inszenierungen zu sehen, in denen Transvestiten auftreten, Rollstuhlfahrer, Körperbehinderte, Strafgefangene, aber auch junge Menschen, die Greise spielen, gesunde Tänzer, die simulieren, dass ihnen Gliedmaßen fehlen. Ein Theater, das den Körper als Ausdrucksmedium nutzt, aber das Ideal der Vollendung im Perfekten längst gegen eine Arbeit am Imperfekten ausgetauscht hat, wie es Theaterwissenschaftler Jens Roselt formuliert.

Der andere Körper auf der Bühne: Körperbehinderungen sind nicht nur eine Beeinträchtigung, sie verändern Identitäten. Welche ästhetischen Konzepte wachsen daraus? Im Vergleich mit den Genderstudies stecken die Disabilitystudies noch in den Kinderschuhen. Gesa Ziemer vom Züricher Institut für Theorie und Gestaltung der Kunst hat über anderthalb Jahre körperbehinderte Theater- und Performancekünstler befragt und den Begriff des verletzbaren Körpers statuiert: Wie können Blickkonventionen durchbrochen werden? Wie kann jenseits von Verwunderung, Sentimentalität, Exotik ein realistischer Blick auf den deformierten Körper gewonnen werden, der eine Gleichberechtigung ermöglichen würde? Antworten darauf sind schlecht zu kategorisieren, weil die Einzelfallpraxis immer schon wieder weiter ist: Gleich am Eröffnungswochenende, abends nach den ersten Vorträgen, führte die belgische Formation Victoria, mit der auch Alain Platel zusammenarbeitete, in ästhetischer Autonomie vor, wie man sich den Blicken der Zuschauer aussetzt und dann ganz langsam in alle Richtungen mit ihnen zu spielen beginnt.

Auf dem Deck eines Vergnügungsdampfers treffen sich in „White Star“ die Schauspieler und Tänzer, die gerade so wenig humpeln, schlurfen, den Körper verkrampfen, dass man nicht weiß, ob sie nicht doch Versehrte sind, die möglichst normal wirken wollen. Immer wieder drängt es sie nach vorne ins Rampenlicht: ihre Chance, anders zu sein. Wim Rigelle, ein Belgier mit Down-Syndrom, schlüpft in die Rolle des Pfarrers, der Mea Culpa fleht. Alle Darsteller entwickeln Strategien, um den Körpern den Teufel auszutreiben. Eine Gummimaske wird der Frau, die eben noch die Geschichte ihrer Entstellung erzählte, langsam vom Gesicht gezogen. Ein Moment des Dehnens und Verzerrens, der die ganze Widerstandskraft des Körpers spiegelt und viel von der ungeheuren Kraft des Abends ausmacht: Alles Flehen, Hoffen, Arbeiten daran, dass er sich verändert, das ganze Durchspielen der Möglichkeitsformen ist vergebens. Je stärker sich diese Erkenntnis durchsetzt, desto mehr quälen sich die Körper auf der Bühne. Man konnte Angst bekommen um den akrobatischen Tänzer Jordi Gali, der eben noch Jesus sein wollte und sich jetzt vom Kreuz herunterhangelt. Oder um einen der Männer, der sich in Plateauschuhen lächerlich wie auf Glatteis bewegt und sich nach jedem Fall lächelnd hochrappelt. Das Gefühlsspektrum wird ausgespielt und bündelt sich in der Demütigung einer einzigen Szene: Wenn dem Transvestiten die herangezüchteten blonden Haare mit einer Nagelschere abgesäbelt werden und er tränenüberströmt den Kopf stillhält. Dem Betrachter scheint gerade aber diese Szene zu signalisieren, dass er den Frauen längst zugehört.

Gegen Gewalten anzutreten, die gestaut, gebündelt und aus der Distanz neu bewertet werden – das kanadische Stück „Recent Experience“ versucht das schlichter und schlanker. Die sechs Schauspieler, die gemeinsam mit den Zuschauern um einen großen Tisch sitzen, werfen sich Jahreszahlen von 1900 bis 2000 wie Bälle zu, um sich in kleinen Rückblicken zu erinnern. Tochter, Schwester, Mutter, Großmutter – dieselben Hoffnungen und Ängste, die über die Jahre zusammenfließen. Eindringlichkeit konnte der Abend damit nicht entwickeln. Zu stark war der Eindruck von „White Star“, der in direkter Verwandtschaft zu Platels „Wolf“ demonstrierte, was an Zuspitzungen auf der Bühne derzeit möglich ist.

SIMONE KAEMPF

Die Gastspiele laufen noch bis zum21. 11. im Hebbel am Ufer,Infos: www.simple- life-festival.com