Vier gewaltige Lebenswege

Für ihre Zivilcourage bekommen vier Jugendliche einen Preis. Einer von ihnen ist der Neuköllner Hamudi. Der 18-Jährige hat es geschafft, sich von seiner gewalttätigen Jugendgang zu lösen

VON PLUTONIA PLARRE

Zwei rasierte schmale Streifen über dem rechten Ohr waren das Erkennungszeichen. Der 18-Jährige Mohammed El-Ahmad, genannt Hamudi, war, was man einen jugendlichen Mehrfachtäter nennt. Im Alter von 12 Jahren gründete der gebürtige Libanese in der Neuköllner Altstadt die Straßengang AGB (Arabische Gangster Boys). Nur wer zum festen Kreis gehörte, durfte das Erkennungszeichen tragen. Die aus zwölf Jugendlichen bestehende Gang trieb viele Jahre lang rund um den Neuköllner Körnerpark ihr Unwesen: Sachbeschädigungen, Diebstähle, Körperverletzungen bis hin zum Raub – das Register der Straftaten war lang. Auch einen Überfall auf den Drogerie-Discounter Schlecker, bei dem sie die Kassiererin mit einem Butterflymesser bedrohte, hat die Bande verübt.

Zwei Gangmitglieder sitzen inzwischen im Knast. Sie haben einen Rollstuhlfahrer so zusammengeschlagen, dass der Mann seinen Verletzungen erlag. Ein anderes Bandenmitglied ist heute Junky.

Hamudi hingegen hat es rechtzeitig geschafft, sich von der Gang zu lösen. Seit drei Jahren führt er ein Leben ohne Straftaten. Aber nicht nur das. Im Neuköllner Jugendfreizeitheim „Lessing Höhe“ bemüht sich der junge Mann als ehrenamtlicher Helfer um Jugendliche, die auf der Kippe stehen. Wegen seiner kriminellen Vergangenheit ist er für Jüngere zu einer wichtigen Vertrauensperson geworden.

Hamudi ist einer von vier Jugendlichen, die gestern von der Berliner Initiative „Fenster der Gewalt“ für ihre Zivilcourage im Umgang mit Gewalt ausgezeichnet worden sind. Als Belohnung gab es 100 Euro pro Nase, die von der Berliner Stadtreinigung gesponsert wurden und Praktikumsplätze, die von mehreren Berliner Unternehmen ausgelobt wurden. Initiator der Aktion ist der 53-jährige Schriftsteller Lothar Berg. In seinem Buch „Fenster gegen Gewalt“ hat Berg die eigene kriminelle Karriere vom Rocker über den Einbrecher bis hin zum Luden und Türsteher verarbeitet (die taz berichtete). Auch der Knast ist dem großen, hageren Mann mit den tätowierten Armen, kurzen grauen Haaren und Nickelbrille nicht fremd. Ziel seiner Initiative, der sich diverse Künstler, Privatleute und Unternehmen angeschlossen haben, sei, zu einem generationsübergreifenden, verantwortungsvollen Dialog über den Umgang mit Gewalt zurückzufinden, so Berg.

Das Schlüsselerlebnis, das Hamudi auf den rechten Pfad zurückbrachte, war der Blick seines Vaters, als er den Sohn nach dem Diebstahl eines Motorrollers neuerlich vom Polizeirevier abholen musste. Damals war Hamudi 15 Jahre alt. „Geh mir aus dem Gesicht, haben die Augen meines Vaters gesagt“, erinnerte sich Hamudi gestern. „Das war sehr schmerzlich.“ Vom Vater wie Luft behandelt zu werden, habe er ebenso wenig ertragen wie die Ächtung, die ihm im Jugendfreizeitheim „Lessing Höhe“ widerfahren sei.

Die vier Preisträger sind mit Hilfe der Polizei ausgewählt worden. Zu ihnen gehören ein 16- und 17-jähriges Mädchen, die sich an der Tempelhofer Werner-Stephan-Oberschule erfolgreich als Streitschlichterinnen engagieren. Außerdem ausgezeichnet wurde ein 18-jähriger Abiturient. Als er mit seiner Klasse einen riesigen Schneemann auf dem Schulhof gebaut hatte, war er von 15 Schülern der benachbarten Realschule umringt und von den Wortführern krankenhausreif geschlagen worden. Strafanzeige gegen die Täter zu erstatten, war das das eine. Das andere war, dass sich der Abiturient dafür einsetzte, dass zwischen beiden Schulen ein Dialog über Gewalt in Gang kam, der in einen ständigen Austausch und diverse gemeinsame Projekte mündete.