Elegie der Akzeptanz

Zwei Schwestern, zwei Lebensmodelle, eine große Stadt und eine kleine aus Plastilin: Der englische Autor Edward Carey erzählt in „Alva & Irva“ ein komisches Märchen

So charmant und niedlich sie daherkommt: Dies ist eine traurige Geschichte. Niedlich ist übrigens auch die Maus, die sich auf ihrem Laufrad ins Zeug legt, ohne je von der Stelle zu kommen – immer weiter hastet sie mit winzigen Schritten, bis ihr kleines Herz versagt. Doch könnte man nicht auch meinen, dass sie mit Titanenschritten die Welt umrundet? Der Gedanke schießt uns durch den Kopf, wenn wir neben ihrem Käfig stehen, auf sie herabschauen und ahnen, dass man auch auf uns so herabschauen könnte. Dass man uns im Zeitraffer und Weitwinkel erfassen und unsere Horizonte einrahmen könnte, und dass der Betrachter unseres Tuns gewiss im Innersten erschüttert wäre. Denn Miniaturen, so die Botschaft des englischen Autors Edward Carey, rühren uns an und sagen: Es gibt kein Entkommen. Allein die jeweiligen Systeme sind verschieden groß.

Treten Sie näher, winkt uns deshalb einer der Erzähler von Careys zweitem Roman freundlich heran, werfen sie einen Blick auf Entralla, eine Stadt im Herzen Europas. Schauen Sie sich um und schlendern Sie entlang der prachtvollen historischen Bauten. Doch halt – sehen Sie die hoch aufgeschossene junge Frau, die dort drüben mit Maßband und Stift in den Händen an einer Fassade emporblickt? Ihr Name ist Alva, sie vermisst gerade unsere Stadt, und später in der Geschichte wird sie zu einer ihrer Retterinnen werden. Neugierig? Dann folgen Sie mir bitte zu einem auf den ersten Blick gewöhnlichen Wohnhaus, denn dort oben, hinter dem verhangenen Fenster unter dem Dach, ist eine gewisse Irva damit beschäftigt, nach Alvas Skizzen ein Modell der Stadt zu bauen: Entralla en miniature, gefertigt aus Plastilin. Von ihrer Schwester Alva können Sie Irva nur am bangen Ausdruck in ihrem Gesicht unterscheiden. Allerdings werden Sie kaum Gelegenheit dazu haben, denn Irva verlässt ihr Zimmer nie. Sie bewohnt ihre eigene Stadt.

Alva und Irva: identische Zwillinge, konträre Charaktere. Die Töchter eines Postboten mit schwachem Herzen und großer Sehnsucht und einer ängstlichen Postangestellten, die kaum wagt, die Motive der Marken zu betrachten, mit denen sie die Briefe der Menschen auf die Reise schickt, geschweige denn, selber eine anzutreten. Eine verhängnisvolle Erbmasse, wie sich herausstellt. Die eine will weit hinaus, ihr ist die Stadt zu klein, die andere will sich verkriechen, ihr ist schon das Haus zu groß; die eine wirft begehrliche Blicke auf die Welt, die andere schaut misstrauisch und ängstlich auf ihre Schwester. Alva und Irva: zwei Menschen, die eigentlich einer sein sollten, verbunden durch eine unsichtbare Nabelschnur, die sie zugleich am Leben hält.

Alva selber ist es, die erzählt, wie sie aufwachsen, wie sie Hand in Hand zur Schule gehen, wie sie als ein Wesen der Außenwelt trotzen und ihre erste Plastilinstadt bauen: Alvairvalla, in der es alles zweimal gibt, aber keine Schule. Eine Miniatur als Rückzugsort. Dann jedoch beginnt Alvas Freiheitsdrang sich zu regen und gewinnt schließlich die Oberhand: „Ich liebte sie so sehr, natürlich liebte ich sie immer, aber damals, in dieser Zeit, da liebte ich es auch, ihr weh zu tun“. Alva entfernt sich von ihrer Schwester. Eine Adoleszenzgeschichte, anders erzählt. Doch kann die Loslösung gelingen? Carey entwirft mit seinen exzentrischen Schwestern und seiner modellhaften und dann selber Modell stehenden Stadt eine Erzählwelt, die von perfekten Symmetrien gegliedert wird, sodass man gelegentlich Angst hat, seine Figuren könnten von symbolischer Last erdrückt werden – erschlagen wie die Opfer des Erdbebens, das Entralla eines furchtbaren Tages erschüttern und fast vollständig zerstören wird.

„Alva & Irva“ ist ein komisches Märchen über die Macht der Zugehörigkeit, eine Elegie der Akzeptanz. Alvas Bildungsroman bleibt unvollendet, daher rührt die Traurigkeit. Sie umkreist Irva wie ein Planet die Sonne, oder wie ein Mond seinen Planeten – eine Kraft treibt sie davon, eine andere hält sie, und wenn sie sich je ablöste, müsste sie ins Nirgendwo taumeln. Irva dagegen kehrt sich immer mehr nach innen und modelliert schließlich eine letzte Stadt, die nur aus identischen Häusern besteht.

Der andere Erzähler übrigens, jener freundliche Reiseführer durch Entralla, ist ein Junge, in den Alva einst verliebt war, mit dem sie zwischen den Atlanten der örtlichen Bibliothek die Abenteuer erlebte, für die sie Irva zum ersten Mal verriet. Ihm ist es vorbehalten, den Traum vom Entkommen zu leben – und am Ende zu widerlegen. Dann wird er zum Chronisten Entrallas und zu Edward Careys Gewährsmann: Kommen Sie herbei, schauen Sie, wie klitzeklein und riesengroß ein jeder ist!

KARSTEN KREDEL

Edward Carey: „Alva & Irva“. Roman. Aus dem Englischen von Jürgen Bürger, Verlagsbuchhandlung Liebeskind, München 2003, 253 Seiten, 20 €