Die Schlacht um den Advent

Morgen wird Deutschland gerettet. Mit einem verkaufsoffenen ersten Adventssonntag in vielen Städten. Die Politik will mit einer Konsumoffensive vor Weihnachten die Wende an der Konjunkturfront erzwingen. Doch Adventspartisanen aus dem protestantischen Mainstream widersetzen sich dem totalen Kaufrausch. Es wird ein schmutziger Krieg
VON ROBIN ALEXANDER

1. Die Offensive

Morgen wird Deutschland gerettet. Morgen, am ersten Advent. Denn woran leidet dieses Land? Richtig: Keiner kauft. Die Sparquote ist so hoch wie nie. Die Konjunktur ächzt unter der schwachen Binnennachfrage. Deshalb haben wir Arbeitslosigkeit, Steuerlöcher, kaputte Sozialkassen. Ab morgen aber wird gekauft. Denn morgen ist der Startschuss in die Weihnachtszeit. Weihnachten heißt schenken. Schenken heißt kaufen.

Morgen ist Sonntag? Egal. Eigentlich verbietet das Gesetz zwar Ausnahmen vom Ladenschlussgesetz „an Adventssonntagen im Dezember“. Aber durch eine glückliche Fügung liegt der erste Advent ja diesmal im November. In Dresden, in Chemnitz, in Kassel, in Erfurt und in Magdeburg werden die Läden geöffnet sein. In zahlreichen Großstädten auch: Wer nur einen Kinderchor in seine Mall einlädt und eine „singende, klingende Woche“ veranstaltet, kriegt in diesem Jahr jede Öffnungszeit genehmigt. Hat nicht der Kanzler selbst zur Adventsoffensive gerufen? Rasch müsse die Steuerreform beschlossen werden, mahnte Gerhard Schröder die zögernde Union, damit die Leute in dieser Vorweihnachtszeit schon das Geld ausgeben können, das sie im nächsten Jahr vom Finanzamt zurückkriegen.

Niedere Chargen wollen den Angriff noch ausweiten: Jeder Adventssonntag soll ein verkaufsoffener Sonntag sein, fordert der FDP-Vize Rainer Brüderle. Auch ein grüner Bundestagsabgeordneter Hans Ulrich schlägt in die gleiche Kerbe: „Verkaufsoffene Sonntage ausgerechnet im Dezember zu verbieten ist irrational, denn die Adventswochenenden sind die umsatzstärksten überhaupt.“

Wenn man an die Sonntage nicht rankommt, kann man wenigstens den Advent ausweiten. Die meisten Weihnachtsmärkte haben schon Ende November eröffnet. Viele werden in diesem Jahr bis Silvester auf dem Marktplatz stehen. Es muss gelingen: Im totalen Konsum erzwingen wir vor dem Fest die Wende an der Konjunkturfront. Attacke!

2. Die Partisanen

Aber der Feind ist mitten unter uns. In unseren Innenstädten, da, wo wir die Konsumschlacht schlagen sollen, lauert sie uns auf: Mit Flugblättern bewaffnet, „Advent ist im Dezember“ rufend, stören sie seit Wochen rechtschaffene Leute, die schon im Herbst Spekulatius mögen und gerne ganz früh alle Geschenke beisammenhaben. Die Störer sind keine Zeugen Jehovas, keine Jesus-Freaks und keine amerikanische Sekte: Der Mainstream des deutschen Protestantismus mobilisiert unter dem Motto „Rettet den Advent“. Fünf große Landeskirchen beteiligen sich an der Aktion, zahlreiche katholische Bistümer haben sich angeschlossen.

Wichtiger: Die Basis fährt darauf ab. In NRW schaltet eine Initiative Traueranzeigen in Tageszeitungen, die den viel zu frühen Tod des Nikolaus beklagen, andere verteilen Schokoladennikoläuse mit dem Aufdruck „Nicht vor 1. Dezember öffnen!“.

2001 rief Margot Käßmann, die Bischöfin mit der Prinz-Eisenherz-Frisur, ihre Gemeinde zum ersten Mal in einem dramatischen Appell („Es gibt kein Entrinnen“) zum Widerstand gegen den Weihnachtskonsum auf. Mittlerweile ist daraus eine Bewegung geworden: eine Partisanenbewegung, die uns am Kaufen hindern will. Ihre Parolen: Stoppt die Ausweitung des Weihnachtsreibachs auf den Spätherbst! Haltet die Adventssonntage einkaufsfrei! Die Adventspartisanen sind gut organisiert. Sie haben eigene Webseiten (www.rettet-den-advent.de), eigene Produkte („Der andere Adventskalender – Zimtsterne für die Seele“) und eigene Slogans („Alles hat seine Zeit“).

3. Ein dreckiger Krieg

Die Adventspartisanen wissen, ihnen wird nichts geschenkt. Ihr einziger Schutz: das Ladenschlussgesetz. Das wurde gerade erst novelliert: Jetzt ist Samstag-Shoppen bis 20 Uhr erlaubt. Sonntag bleibt verboten. Außer für Weihnachtsmärkte, wo es mittlerweile alles zu kaufen gibt. Außer für „Reisebedarf“ für Touristen. Ganze Kaufhäuser erklären an Sonntagen ihre Produkte zu „Reisebedarf“. Kein Trick ist zu mies: Im vergangenen Jahr suspendierte das sächsische Wirtschaftsministerium während der Elbeflut den Ladenschluss per Ausnahmegenehmigung, „damit die Evakuierten und Helfer die Möglichkeit haben, Lebensmittel, Bekleidung und Materialien für die Aufräumarbeiten zu kaufen“.

Obwohl die Pegel längst wieder Normalstand anzeigten, dehnte die CDU-Landesregierung die Ausnahmegenehmigung bis zum 1. Januar aus. Wirtschaftsminister Gillo: „Es sollte sich herumsprechen, dass man nirgendwo in Deutschland besser seinen Weihnachtseinkauf machen kann als in Sachsen.“

4. Feindbilder

Wie jede Partisanenbewegung leben auch die Adventspartisanen von einem anständigen Feindbild: In diesem Fall ist es der „Materialismus“. Lautsprecher wie der in der Zeit publizierende Berufsprotestant Robert Leicht hauen richtig drauf: „Und nun kommen einige durchgeknallte Konsumheinis daher und wollen uns – Konjunktur!, Konjunktur! – auch noch an den Adventssonntagen auf die Konsumpiste hetzen. Pervers!“

Das Fußvolk fürchtet – in christlicher Tradition – eher den inneren Versucher. „Ich bin mir dieses Jahr untreu geworden und habe gestern schon einen Stollen gegessen“, bekennt eine Sigrun am 20. November in einem Advents-Internetforum.

Gegen den Materialismus werden Adventstraditionen in Stellung gebracht. Das Adventssingen in der Familie. Der Kranz. Der Glanz der Kerzen. Der Adventskalender. Allerdings sind diese wundervollen Dinge nicht, wie Adventspartisanen zumeist glauben, jahrhundertealte abendländische Traditionen, sondern Produkte der deutschen Moderne. Der Adventskranz bürgerte sich erst in den 1930er-Jahren ein. Der Adventskalender mit kleinen Schokolädchen fand Massenverbreitung erst in der Konsumgesellschaft.

Die Verteidigung des besinnlichen Advents gegen den Konsumrausch hat eine deutschnationale Note. In Amerika und den USA wird Weihnachten seit je bunter gefeiert und noch gnadenloser vermarktet. Nicht zufällig kommt das abschreckende Beispiel der Adventspartisanen aus London. Bei Harrod’s, dem größten Kaufhaus der Welt, fängt die Weihnachtszeit 140 Tage vor dem Fest an. Ende November – dann beginnt der Endspurt – säumen tausende britische Kinder die Straßen, wenn sich Santa Claus auf einem von echten Rentieren gezogenen Schlitten nähert und von Harrod’s-Besitzer Mohammed al-Fayed persönlich begrüßt wird.

5. Waffenstillstand

Vielleicht wird Deutschland doch nicht durchs Weihnachtsgeschäft gerettet. Vielleicht wird es doch nichts mit der Mutter aller Konsumschlachten. Viele Firmen haben ihren Angestellten das Weihnachtsgeld gekürzt oder ganz gestrichen.

Angefangen haben damit übrigens Bund und Länder für ihre Beamten. Die gleichen Politiker, die uns an die Konsumfront schicken, haben also dafür gesorgt, dass die Munition knapp ist. Die Adventspartisanen sind glücklicherweise nicht unversöhnlich. Im Berliner Kaufhaus des Westens (KaDeWe), dem deutschen Harrod’s, fand am vergangenen Montag eine Art Waffenstillstand statt. Das KaDeWe verpflichtete sich, seine Weihnachtsbeleuchtung erst nach Totensonntag (23. 11.) einzuschalten. Zum Dank hielt Bischof Wolfgang Huber, Präsident der Evangelischen Kirche in Deutschland und eigentlich der Prototyp eines Adventspartisanen, eine Messe für – unglaublich, aber wahr – das Gelingen des Weihnachtsgeschäftes. Ein Vertreter der Arbeitnehmer bat Gott laut um „Kraft für die Verkäufer, durchzuhalten“. Der Direktor des KaDeWe sprach eine Fürbitte für „einen erfolgreichen Abschluss des Geschäftsjahres“. Auf dass nicht nur die Zahlen stimmen, so der Kaufmann, „sondern auch das Gefühl“. Nach dem Gottesdienst ging man gemeinsam aus der Kirche zum Kaufhaus, und der Bischof drückte persönlich einen großen roten Knopf, um feierlich die Weihnachtsbeleuchtung einzuschalten. Ein anständiger Heiligabend besteht eben aus Gottesdienst und Bescherung.