Der französische Autor Philippe Claudel liest im Literaturzentrum aus „Die grauen Seelen“
: Schuld, nicht Sühne

„Nichts ist ganz schwarz oder ganz weiß; das Grau setzt sich durch. So ist es auch bei den Menschen und ihren Seelen. Du bist eine graue Seele.“ Der sich das sagen lassen muss, ist der Chronist der Ereignisse in Die grauen Seelen, dem neuen Roman des 1962 geborenen, bereits mehrfach preisgekrönten französischen Autors Philippe Claudel, der jetzt Gast des Literaturzentrums ist.

Nicht nur einmal wird so deutlich ausgesprochen, was den Roman wie ein Leitmotiv durchzieht: die Schuld, die fast alle Figuren auf sich geladen haben oder zumindest die Zwielichtigkeit ihres Handelns. Ein Handeln im Schatten des allgegenwärtigen Todes: Der Erste Weltkrieg tobt, die Menschen einer kleinen Stadt im Osten Frankreichs hören das dumpfe Grollen der Kanonen; sehen die, die unversehrt hineinrennen ins Gemetzel und zerstört zurückkehren, halb tot oder in billigen Särgen. Man hat sich daran gewöhnt.

Der kleinbürgerliche Kosmos scheint trotz allem unverrückbar: Da ist der strenge Staatsanwalt Destinat, der sadistische, fett-feiste Richter Mierck, der Wirt, bei dem beide nach getaner Arbeit speisen, der Arzt, die Fabrikarbeiter, die Außenseiter. Und da ist der Ich-Erzähler, ein einfacher Gendarm. Nach über zwanzig Jahren schreibt er über die Ereignisse jener Zeit. Etwas treibt ihn, etwas muss ausgesprochen werden. Über die „Affäre“, den Mord, der im Dezember 1917 die Kleinstadt erschreckte; dieser Tod, der herausfiel aus dem Gewohnten: An einem Wintermorgen trieb damals die Leiche der jüngsten Tochter des Wirts im Kanal, erwürgt. Der Richter Mierck ermittelte, ein Oberst von außerhalb wurde hinzugezogen. Der Staatsanwalt selbst geriet in Verdacht, doch dem wurde nicht nachgegangen. Der Erzähler wird harsch zurückgepfiffen, als er Nachforschungen anstellt.

Doch geht es ihm in seiner späten Niederschrift nicht um die Aufklärung des Verbrechens, das sich letztlich entzieht. Die Tat bildet zwar einen Erzählstrang, aber der soll vor allem etliche Abzweigungen ermöglichen, so dass sich schließlich ein fein verästeltes Erzählnetz entspannt. So schafft sich Claudel den Raum, seine Figuren wie in Porträts vorzustellen – und das gelingt ihm großartig. Da ist zum Beispiel Mierck, der im Angesicht der jungen Toten seine Lieblingsspeise, weich gekochte Eier, verzehrt und später gemeinsam mit dem Oberst, der einst mutig für Dreyfuss eintrat, brutal ein Geständnis erpresst – beide mit vom Wein roten Backen. Eine Szene, die in ihrer Eindringlichkeit nur schwer auszuhalten ist.

Dann gibt es noch Despiaux, ein weiterer Gendarm, der Zeuge der Grausamkeiten war und nicht eingriff, sich lebenslang damit quält. Und den vereinsamten Destinat, auf den die junge Lehrerin Lysia eine nicht zu erklärende Faszination ausübt. Sie wiederum, die alle als lebensfroh erleben, erhängt sich, als der Geliebte an der Front „fällt“. Und nicht zuletzt ist da natürlich die Geschichte des Erzählers selbst, der im Schreiben beständig um seine eigene große Trauer kreist, in der er seit dem Tod seiner Frau lebt. Sie starb, nur einen Tag nach dem Mord, bei der Geburt des Sohnes – und in Abwesenheit ihres Mannes, der sich das nicht verzeihen kann. Und der daraufhin eine eindeutigere Schuld auf sich laden wird.

Claudel erzählt spannend, seine Sprache ist schnörkellos; eher karg angelegt, trifft sie umso genauer. Der Autor widmet sich jeder einzelnen seiner Figuren und entwirft so zugleich ein Gesellschafts- und Zeitgemälde. Er ist wohl ein Kenner von Traurigkeiten, aber nie ein trostloser Erzähler. Ganz im Gegenteil.

Carola Ebeling

Philippe Claudel: Die grauen Seelen. Reinbek 2004, 239 S., 19,90 EuroLesung: So, 21.11., 20 Uhr, Literaturzentrum, Schwanenwik 38