Die Angst der Deutschen vor sich selbst

Mehr Basisdemokratie in Deutschland – dafür kämpft die Initiative „Mehr Demokratie“ seit fünfzehn Jahren. Jetzt wurde in Bremen gefeiert. Der Weg zu mehr Mitbestimmung von unten ist zäh. Weil das Volk sich selbst misstraut, glaubt die Initiative

Von 100 Gründungs-Mitgliedern wuchs der Verein auf etwa 4.100 Demokratie-Kämpfer

VON DOROTHEA SIEGLE

Die Todesstrafe wird eingeführt, die Staatsfinanzen werden ruiniert, und Benzin gibt’s zum Spottpreis. Das passiert, wenn die Bürger direkt über politische Themen abstimmen dürfen, sagen Kritiker der Basisdemokratie. Falsch, sagt Tim Weber von der Initiative „Mehr Demokratie“. Diese setzt sich für mehr Mitbestimmung in Deutschland ein – seit nunmehr fünfzehn Jahren. In Bremen wurde das am Wochenende gefeiert.

Alle 44 Jahre findet in Deutschland in einem Bundesland ein Volksentscheid statt – zu selten, meint „Mehr Demokratie“. Volksentscheide sind auf Landesebene erlaubt, in allen 16 Bundesländern. Doch der Weg bis zum Entscheid ist steinig: Zunächst muss eine Bürgerinitiative einen Antrag auf ein Volksbegehren stellen. Wird dem Antrag stattgegeben, müssen hurtig viele Stimmen für das Volksbegehren gesammelt werden: Fünf Prozent aller Wahlberechtigten müssen beispielsweise in Hamburg innerhalb von zwei Wochen unterschreiben, 10 Prozent innerhalb von zwölf Monaten in Niedersachsen. Sind genügend Unterschriften gesammelt, wird der Volksentscheid zugelassen. Und das passiert eben so gut wie nie: Von 151 Anträgen auf Volksbegehren erreichten nur zehn den Status des Volksentscheids.

„Wir kämpfen dafür, dass die Hürden für Volksentscheide niedriger werden“, sagt Tim Weber über „Mehr Demokratie“. Von 100 Gründungs-Mitgliedern im Jahr 1988 wuchs der Verein auf heute bundesweit etwa 4.100 Demokratie-Kämpfer, die meisten ehrenamtlich. Sie beraten, dokumentieren – und initiieren selbst Volksbegehren.

Zwei davon hatten Signalwirkung: In Bayern votierten die Bürger 1995, in Hamburg 1998 für die Einführung von Bürgerentscheiden – das sind Volksentscheide auf Gemeindeebene. Inzwischen haben alle Bundesländer bis auf Berlin Bürgerentscheide in ihre Verfassung aufgenommen. „Für uns waren die neunziger Jahre keineswegs das Jahrzehnt der Politikverdrossenheit“, meint Weber.

Allerdings gilt: Nicht überall, wo Basisdemokratie möglich ist, wird sie auch praktiziert. In Bremen kommt es kaum zu Volksbegehren – meist werden schon die Anträge von der Innenbehörde als nicht-verfassungsgemäß abgelehnt. In Hamburg und Schleswig-Holstein hingegen werden eifrig Unterschriften gesammelt: In Schleswig-Holstein lehnten die Bürger 1998 in einem Volksentscheid die Rechtschreibreform ab – ein Jahr später führte sie der Landtag trotzdem ein. In Hamburg ist gerade ein Volksentscheid zugelassen worden: Im kommenden Juni werden die Bürger über eine Wahlrechtsreform abstimmen.

Das wichtigste Ziel von „Mehr Demokratie“ ist es, Volksentscheide auf Bundesebene durchzusetzen. Der Bundestag entschied sich im vergangenen Jahr gegen eine solche Verfassungsänderung. „Es ist die Angst der Deutschen vor sich selbst“, meint Tim Weber. „Wir trauen es den Bürgern einfach nicht zu, über politische Themen vernünftig abzustimmen – auch wegen unserer Erfahrung mit dem Nationalsozialismus.“ In der Schweiz habe man da mehr Vertrauen. „Die Ökostandards sind dort viel höher als in allen anderen europäischen Ländern – gerade durch die Volksentscheide“, so Weber. Und außerdem: „Das Parlament beschließt andauernd Dinge, die ich dumm finde – aber stelle ich deswegen die parlamentarische Demokratie in Frage?“