Kerntruppe für Europa

AUS ROM MICHAEL BRAUN

Der eine strahlte und redete von „großen Schritten nach vorn“, der andere guckte sauertöpfisch und verkündete, er reise „besorgter“ ab, als er gekommen sei. Fast mochte man glauben, Italiens Außenminister Franco Frattini und sein deutscher Kollege Joschka Fischer hätten an zwei verschiedenen Veranstaltungen teilgenommen, so unterschiedlich fiel ihre Bilanz des EU-Außenministerkonklave am Freitag und Samstag in Neapel aus. Und zu allem Überdruss gab es noch einen Zuruf von EU-Kommissionspräsident Romano Prodi, unterwegs im fernen Indien, der alles noch schlimmer erscheinen lässt als bei Griesgram Fischer. Wenn der EU mit dem laufenden Verfassungsprozess nicht ein entscheidender „Sprung nach vorn“ gelinge, so Prodi, dann werde „Europa sich von der Landkarte getilgt finden“.

Dabei gab es in Neapel bloß europäische Normalität. Der große Knall blieb ebenso aus wie ein epochaler Durchbruch. Den aber hatte so recht auch niemand erwartet. Schließlich steht am 12./13. Dezember in Brüssel die Konferenz der Staats- und Regierungschefs an. Und in Europa galt schon immer der ungeschriebene Verfassungsartikel, wonach wichtige Einigungen „in letzter Stunde“ (Fischer) erfolgen.

Daran gemessen brachte das Außenministertreffen sogar überraschend viele Fortschritte. Noch im April schien die EU in der Frage der Verteidigungspolitik heillos gespalten – jetzt verabredeten die Minister auf Vorschlag von Frankreich, Deutschland und Großbritannien die Grundlagen einer Gemeinschaftsverteidigung. Danach können jene Mitglieder der Union, die „willens und fähig“ sind, eine „strukturierte Zusammenarbeit“ auf diesem Feld aufnehmen, mit gemeinsamen Eingreiftruppen und gegenseitiger Beistandsverpflichtung. Natürlich – das waren die anderen schon den Briten schuldig – sei die so auf den Weg gebrachte neue Allianz bloß „komplementär“ zur Nato, und natürlich durfte auch das auf die USA wie ein rotes Tuch wirkende Wort „gemeinsames Hauptquartier“ nicht fallen, weshalb das Kind wohl erst mal „Planungszelle“ heißen wird. Aber Deutsche und Franzosen sind natürlich frei, darin die Keimzelle des von ihnen gewollten Nato-unabhängigen Hauptquartiers zu sehen. Dagegen mauerte Großbritannien weiter bei der gemeinsamen Außenpolitik. Dort gilt, im Namen einer unbeeinträchtigten Souveränität der Nationalstaaten, weiterhin das Prinzip der Einstimmigkeit statt der von Italien vorgeschlagenen Mehrheitsentscheidungen, und Blair wird sich diese Position wohl kaum in zwei Wochen in Brüssel abhandeln lassen.

Einen Fortschritt gab es offenbar auch bei der zukünftigen Zusammensetzung der Kommission, zugunsten der von Prodi und den „Kleinen“ favorisierten Lösung. Frattini jedenfalls verkündete, faktisch sei das Prinzip gebilligt, dass jeder der 25 Mitgliedsstaaten einen stimmberechtigten Kommissar haben werde. Und auch die Kleinsten dürfen sich freuen: Für die Minimitglieder der EU zeichnet sich eine Aufstockung der Zahl der Europaparlamentarier von vier auf fünf oder sechs ab.

Bleibt der dickste Brocken auf dem Weg zum Verfassungskompromiss: die Gewichtung der Stimmen in der zukünftigen Union. Hier bewegte sich nichts in Neapel, mauerten Spanien und Polen wie gehabt, verteidigten sie das Nizza-Modell (das ihnen je 27 Stimmen und damit nur zwei weniger gegenüber den „Großen“ Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien zubilligt) gegen die im Konventsentwurf vorgesehene doppelte Entscheidungsmehrheit (50 Prozent der Staaten, 60 Prozent der Bevölkerung). Und zu Fischers schlechter Laune dürfte entscheidend beigetragen haben, dass Großbritanniens Jack Straw als Kompromiss vorschlug, bis 2009 die alte Regelung zu belassen, da die neue Verfassung ja erst in jenem Jahr in Kraft trete. Ein Kompromiss, für den Fischer nicht zu haben war. „Eine Vertagung dieser Kernfragen wäre faktisch ein Eingeständnis des Scheiterns“, verkündete er am Samstag in Neapel.