Stolpernder Riese

Dem stolzen WM-Dritten Türkei droht nach dem 0:3 gegen die Ukraine für die WM 2006 eine Zuschauerrolle

ISTANBUL taz ■ An diesem Mittwoch sollte alles perfekt sein. Mit der Stilsicherheit eines erfahrenen Innenarchitekten hatte Levent Bicakci, der Präsident des türkischen Fußballverbandes, höchstselbst jenen Tisch vor dem Logenplatz mit zwei Blumenvasen dekoriert, von dem aus Recep Tayyip Erdogan den Sieg über die Ukraine beklatschen sollte. Doch kurz bevor der Ministerpräsident die Szene betrat, stieß ein Sicherheitsbeamter an den Tisch, die Vasen fielen um, das Wasser strömte in den für Erdogan reservierten Ledersessel. Aufgeregt liefen die umstehenden Anzugträger in ihrem Bemühen, schnell alles wieder in Ordnung zu bringen, durcheinander, rempelten sich gegenseitig an, bevor am Ende Fußballchef Bicakci den Ministerpräsidenten doch noch auf einem sauberen Ehrenplatz begrüßen konnte.

Es war nicht die letzte slapstickartige Einlage an jenem Abend im Sükrü-Sarakoglu-Stadion von Fenerbahce Istanbul. Mit 0:3 verlor die Türkei gegen die Ukraine. Statt mit 55.000 Türken den Sprung an die Tabellenspitze der WM-Qualifikationsgruppe 2 zu feiern, war Erdogan Zeuge einer „Blamage“, wie das Blatt Fanatik fand. Kaum dass der Staatslenker Platz genommen hatte, lag die „Milli Takim“ auch schon 0:2 zurück. Zweimal war Andrej Woronin von Bayer Leverkusen der Vorbereiter. Zuerst bediente der Angreifer Andrej Husew (4.), zwölf Minuten später passte er auf Andrej Schewtschenko. Dessen Gegenspieler Servet stolperte, als wolle er den Adlaten Bicakcis den Preis für die lustigste Einlage streitig machen, sodass der Stürmer unbedrängt einschieben konnte. „Wir haben nun die große Chance, uns erstmals für eine WM zu qualifizieren“, meinte der Trainer des Tabellenführers, Oleg Blochin, stolz, der auch noch das 3:0 – wieder durch Schewtschenko (89.) – bewundern durfte.

Das Reformprojekt Nationalmannschaft des jungen Trainers der Türkei, Ersun Yanal, hingegen droht zu scheitern. Bei der EM in Portugal fehlte der sich nach dem dritten Platz bei der WM in Asien auf Augenhöhe mit den etablierten Fußballmächten wähnende „Riese von Bosporus“. Yanals Vorgänger Günes musste gehen. Nun droht die zweite Absenz bei einem großen Turnier hintereinander. Yanal, der intelligente Mann aus Izmir, wusste bereits in den Minuten nach der Pleite, was ihn am nächsten Tag erwarten würde. Vergeblich bat er die Presse: „Konzentriert euch nicht auf mich, sondern seht, was bisher geleistet wurde.“ Doch das Kriegsbeil gegen Yanal ist ausgegraben. Rücktrittsforderungen sind in allen Gazetten zu lesen und das Blatt Fotomac hat die angeblichen Gründe für den „tiefen Fall“ (Hürriyet) auf seiner Titelseite aufgelistet: „Der Weg nach Deutschland – ohne König, ohne Imperator und ohne Hoffnung.“

Yanal, ein Freund flacher Hierarchien, hatte den als „König“ bezeichneten Stürmer Hakan Sükür ausgemustert und sich damit eine große Angriffsfläche geschaffen. Sükür verfügt über eine starke Lobby in den Medien und beim Verband. Auch die Erfahrung des selbst ernannten „Imperators“ Fatih Terim besitze Yanal (43) nicht, bemerken die Kritiker. Als seien die Erfolge, die der Konzepttrainer mit Genclerbirligi aus Ankara feierte, plötzlich nichts mehr wert.

Die ernüchternde Bilanz mit sechs Punkten aus sechs Spielen und fünf Punkten Rückstand auf die Ukraine lassen im Moment nur Yanal nicht völlig hoffnungslos in die Zukunft blicken. „Wir können es noch aus eigener Kraft schaffen“, glaubt der. Noch vor vier Wochen in Dänemark spielte seine Auswahl beim 1:1 schnell, direkt und offensiv. Dem öffentlichen Druck in Heimspielen scheint die junge Generation aber (noch) nicht gewachsen.

„Yanal genießt unser vollstes Vertrauen“, sagte Verbandspräsident Bicakci gestern. In der Türkei ist derzeit kein Trainer in Sicht, dem Bicakci zutraut, bessere Arbeit zu leisten. Eine Entlassung des bis 2008 gebundenen Yanals käme den Verband auch teuer zu stehen. Die wohl bis zum nächsten Spiel in fünf Monaten gegen Albanien andauernde Trainerdiskussion kommt für den neuen Präsidenten zum ungünstigsten Zeitpunkt. Ein Untersuchungsausschuss befasst sich mit Manipulationsvorwürfen aus dem Abstiegskampf der letzten Saison, die im Zuge der Verhaftung eines Mafia-Paten ans Licht traten. Für den Juristen Bicakci bedeutet dies einen Glaubwürdigkeitstest. Ist er doch im Juli mit dem Anspruch angetreten, mehr Transparenz in den türkischen Fußball zu bringen. Levent Bicakci hat in den nächsten Wochen wenig zu lachen.

TOBIAS SCHÄCHTER