LESERINNENBRIEFE
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■ betr.: „Totalitarismus aus Liebe“, taz vom 15. 4. 09

Zu Tode geliebt

Kerstin Deckers Gedanke, den Totalitarismus der DDR auf Liebe und Solidarität zurückzuführen, ist nachvollziehbar – zumindest für Leute, die davon profitiert haben. Diejenigen, deren Biografien daran zerbrochen sind, werden sich gegen derartige Liebeleien verwahren. Innerhalb der katholischen Kirche gibt es eine kirchengeschichtliche Sicht auf die Inquisition, die besagt, dass die Inquisitoren die Seelen der Abtrünnigen retten wollten und dafür auch die Zerstörung ihrer Körper in Kauf nahmen. Die Scheiterhaufen brannten sozusagen aus Liebe. Letztendlich ist tiefenpsychologisch jeglicher Terror auf Liebe zurückzuführen – auch der faschistische. Der Mann, der seine Frau verprügelt und seine Kinder quält, er tut es aus Liebe.

Ich bin heilfroh, dass die DDR verschwunden ist. Sie hätte mich zu Tode geliebt – Kerstin Decker wahrscheinlich auch. MATTHIAS VERNALDI, Berlin

■ betr.: „Totalitarismus aus Liebe“

Die DDR, ein Unrechtsstaat

Als Arbeiterkind interessiere ich mich natürlich immer für Erklärungen der „Arbeiterkultur“ seitens der gebildeten Stände. So auch für Frau Deckers Artikel über das totalitäre System der DDR, das ursprünglich aus dem der Arbeiterklasse angeblich inhärenten Streben nach Solidarität entsprungen sein soll. Was dieses Streben angeht, habe ich mindestens insofern meine Zweifel, als ich es für einen Euphemismus halte, die Politfunktionäre der SED mit Arbeitern gleichzusetzen. Viele dieser Funktionäre waren in der Sowjetunion Stalins zu Parteisoldaten geworden. Sie forderten ziemlich bald recht rabiat die totale Unterwerfung gegenüber der „Mutter der Massen“, der kommunistischen Partei. Es ging ihnen nie um die Solidarität der Unterdrückten, sondern darum, wer recht hat, wer sich wem unterwirft, um Macht. Wenn man die Unterwerfung im Namen des Kampfes um eine bessere Welt erzwingen konnte, umso besser.

Diese These ist durch viele Beispiele aus der DDR-Geschichte belegbar. Angefangen bei dem Einsatz sowjetischer Panzer gegen demonstrierende Arbeiter am 17. Juni 1953, über die regelmäßig stattfindenden Parteisäuberungen der SED, den Bau der Mauer am 13. August 1961 bis zu Plänen, ähnlich wie in China die Massenproteste 1989 mit militärischer Gewalt niederzuschlagen, wollte die jeweilige Parteiführung der SED immer nur eines: die Massen auf den ihrer Meinung nach richtigen Weg führen. Wollten einzelne Bürger oder die Massen aber nicht folgen, wurde Gewalt angewandt.

Das kennzeichnete die DDR aber klar als einen Unrechtsstaat, einen Staat, in dem Menschenrechte nichts galten. V. KLOHR-BÜRGER, Neckarsulm

■ betr.: „Billig Willich“, taz zwei vom 21. 4. 09

Gekaufte Frauen als Normalität

Ich versteh es einfach nicht. Diese Zeitung berichtet unter anderem tagtäglich über Menschenrechtsverletzungen, spricht von Taten und sozialer Solidarität, berichtet unabhängig, gut recherchiert und gibt sich intellektuell. Und dann verherrlicht sie Prostitution. Schreibt über ein „Billig-Bordell“ wie eine Werbebroschüre über einen Freizeitpark. Mit einem Titel, der den schlimmsten Boulevard-Schlagzeilen in nichts nachsteht, und unter der Rubrik „Alltag“. Ja sie berichtet noch nicht mal so wie über einen Supermarkt, was schon mehr als zynisch wäre, denn bei Supermärkten legt sie ja bisweilen offene Konsumkritik oder Kritik an den Arbeitsbedingungen an den Tag. Noch nicht mal dafür reicht es hier also. Dieses Maß an Zynismus bestürzt mich außerordentlich. Sie klagen den Neoliberalismus an und propagieren den Kauf von Frauen als Normalität. Als pure Normalität, ohne all das Leid, das er verursacht in Deutschland und im Rest der Welt, überhaupt zu erwähnen. JUDITH BERENDSEN, Dorsten

■ betr.: „Billig willich“

Die Debatte vom Leib gehalten

Den Prostituierten wird die Bezeichnung „Frau“ konsequent verweigert. Dass die Betreiberin des Bordells sie „Mädchen“ nennt, ist vermutlich üblich. Dass die Autorin sie ausschließlich als „Damen“ bezeichnet, ist diskriminierend. Das heißt, Rotlicht-Jargon in die journalistische Sprache zu übernehmen, dies im Artikel nicht zu problematisieren und die Prostitution so darzustellen, als habe sie mit „normalen“ Frauen, mit Geschlechterverhältnissen, mit Fragen nach Macht, Ohnmacht, Gleichberechtigung (wer käuflich bzw. mietbar ist, ist niemals gleichberechtigt und gleich würdig!) nichts zu tun: Das sind ja die „Damen“. So hält frau sich die Debatte vom eigenen Leib. ANNETTE JANTZEN, Aachen

■ betr.: „1.000 unbezahlte Überstunden“, taz vom 18. 4. 09

Peanuts für die Beschäftigen

Der neuste Discounter-Skandal kommt nicht überraschend. Schließlich lässt es in Deutschland die Situation zu, dass Firmen ihren Gewinn dadurch erhöhen, dass sie ihre Mitarbeiter unfair behandeln. Denn analog zur Finanzwelt fehlt auch auf dem Arbeitsmarkt ein verbindliches Regelwerk, das Mindeststandards für redliches Wirtschaften vorgibt. So entsteht eine bizarre Doppelmoral wie etwa beim Bekleidungsanbieter KiK, der für teures Geld prominente Werbeträger einkauft, für seine Beschäftigten aber nur Peanuts übrig hat! RASMUS PH. HELT, Hamburg

■ betr.: „Du willst ja nicht“, taz zwei vom 15. 4. 09

Nikotinsucht unterschlagen

Meine Anerkennung für die guten Analysen in diesem Artikel über Süchte. Von einem bin ich aber total verblüfft: Kein einziges Wort über die in großen Teilen Europas am zweitmeisten oder gar am meisten verbreitete, die zum Glück mit abnehmender Tendenz für die Mitmenschen schädlichste Sucht, die sogar im Kasten „Suchtkrankheiten“ auf direkt unheimliche orwellsche Weise unterschlagen wird: die Nikotinsucht. Wie kann diese wichtige Sucht „vergessen“ werden? ORTWIN ZEITLINGER, Berlin