die schnupper-bibel von ILKE S. PRICK
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„Komm“, sagt meine Freundin, „wir machen’s mal wie alle normalen Leute im Advent!“ Sie hat dabei diese Mütze auf, die mit den Fellklappen über den Ohren. Mir graust es, und ich befürchte Übles. Bei zehn Grad minus, Fühltemperatur. „Gebrannte Mandeln, Bratwurst“, sie holt Luft, „Glühwein, Waffeln …“ Mehr ist gar nicht nötig, denn jetzt habe auch ich den Schal um. Es ist ziemlich einfach, mich zu ködern.

Angekommen auf dem Weihnachtsmarkt erwartet uns das Übliche: Geflügelwürstchen, peruanische Häkeltaschen und Räucherstäbchen zum Abwinken. Doch dann stolpere ich über einen Stand, der mich staunen lässt. Auf einem kleinen Tisch liegen Bücher, daneben stapeln sich Zettel: „Die Bibel zum Reinschnuppern!“ Unglaubliches tut sich hier, gleich neben „Whisky and Cigars“. Nix Räucherstäbchen, nix orientalische Kräuter. Hier gibt es Gott zum Beschnuppern. Bei „Whisky and Cigars“ habe ich vorhin durch die Scheibe beobachtet, wie ein Kaschmirmantel eine Zigarre unter der Nase entlang gezogen hat, genüsslich. Ich mochte mir allerdings nicht vorstellen, welchen Genuss der Adressat dieses Weihnachtsgeschenks beim Rauchen haben würde, wenn die Nase des Kaschmirmantels genauso zum Tropfen neigt wie meine eigene. Aber das ist eine andere Geschichte. Hier geht es um wahre Werte. Hier geht es um die Bibel. Die Bibel zum Schnuppern.

Es liegen drei Geschmacksrichtungen aus: das Alte Testament, das Neue Testament und die Weihnachtsgeschichte. Ich bin etwas ratlos. Keine Standaufsicht taucht auf, um mir hilfreich zur Seite zu stehen. Bei Douglas ist das anders. Da habe ich gleich drei Damen am Hacken, wenn ich auf dem Weg zur U-Bahn noch mal schnell vorbeischaue, um mir heimlich ein Paar Tropfen Eau d’Issey auszuleihen. Hier aber bin ich allein mit der Frage, wie das funktionieren soll: die Bibel schnuppern. Bekomme ich einen kleinen Streifen Papier zum Mitnehmen? Oder hält man gleich das ganze Buch unter die Nase wie der Kaschmir vorhin die Zigarre, trotz der Gefahr, dass dem Nächsten die Seiten verkleben?

Beratung wäre nötig: „Schauen Sie, hier haben wir die Auferstehungsgeschichte mit der Kopfnote von Frühlingswiese, alles jedoch auf der Basis von Schwefel und Höllenflammen. Ach, das ist nichts für Sie? Dann versuchen Sie doch lieber die Bücher Mose. Wir haben sie in den Richtungen Brandopfergeruch, Gesetzesstaub oder mit dem leichten Odeur von feuchter Wäsche. Sie verstehen – die Sintflut. Auch das ist es nicht? Nun ja, Sie scheinen mir auch eher ein Typ ‚Das Hohelied Salomos‘ zu sein. Etwas üppiger, mit Rosen, Zedern, Lilien, Ambra und anderen Zutaten, die ich hier leider nicht nennen darf. Wir haben mit dieser Version nämlich etwas Ärger bekommen und mussten sie vor einer Weile vom Markt nehmen. Die Alternative wäre unsere Kreation ‚Weihnachtsgeschichte‘. Kardamom, Weihrauch und Myrrhe, alles auf der Basis von Moschus, wegen der Ochsen. Für die ganze Familie geeignet. Probieren Sie nur!“

Das wäre Service. Hier könnte Douglas wirklich was lernen. Aber meine Freundin zieht mich weiter zur Bratwurst. So werde ich wohl nie erfahren, wie sie riecht – die gute Nachricht.