Der Angriff der Bürgerversicherer

Im Prämienkompromiss der Union haben SPD-Linke ein Finanzloch von knapp 15 Milliarden Euro entdeckt. Jetzt soll der Kanzler endlich Farbe bekennen

BERLIN taz ■ Wenn sich Horst Seehofer bei der Union nicht mehr wohl fühle – wolle er nicht zur SPD kommen? Noch bevor der Vize-CSU-Chef und Vize-Fraktionschef gestern seine Entscheidung über seinen politischen Verbleib bekannt gab, war klar, dass er dieses Angebot wohl ausschlagen würde. Der SPD-Vize-Fraktionschef Michael Müller hatte gesagt: „Horst Seehofer wäre sicher für den Arbeitnehmerflügel meiner Partei eine gute Verstärkung.“

Bei allem Augenzwinkern – Seehofer wäre in Gesundheitsdingen mittlerweile tatsächlich besser im anderen Lager aufgehoben. Denn nicht nur den zwischen CDU-Chefin Angela Merkel und CSU-Chef Edmund Stoiber jüngst ausgehandelten Kompromiss zum Gesundheitssystem der Zukunft, die Kopfpauschale, lehnt er rundweg ab. Noch bis Mitte 2003 bekannte er sich sogar zum rot-grünen Gegenentwurf, der Bürgerversicherung. Dann stoppte Stoiber ihn.

Allerdings hat auch die SPD-Spitze bislang noch keine besonders lauten Loblieder über die Bürgerversicherung gesungen. Die Bürgerversicherung ist immer noch ein Basisprojekt, das insbesondere vom Kanzler nicht goutiert wird. Das Schweigen Gerhard Schröders dazu beginnt langsam zu dröhnen – insbesondere jetzt, nach der Präsentation des Merkel-Stoiber-Modells. Erwartbar wäre gewesen, dass Schröder seine übliche Kritik an Merkel und Stoiber mit stolzem Verweis auf den eigenen, den SPD-Entwurf fundiere.

Stattdessen ließ er sich von den fünf „Wirtschaftsweisen“ loben, die ihm am Mittwoch mit ihrem Jahresgutachten die erneute Forderung nach der Kopfpauschale überreichten – ihrer eigenen Kopfpauschale, die sie „Bürgerpauschale“ und „Kompromiss“ nannten. Das klang gut. Doch damit meinten die Gutachter lediglich, dass sie nun auch für die Einbeziehung der bisher privat Versicherten ins allgemeine Gesundheitssystem seien. Beim zentralen Unterschied zwischen Kopfpauschale und Bürgerversicherung – Einheitsprämien für Arm und Reich hier, Belastung nach Leistungsfähigkeit dort – blieb es.

Die Bürgerversicherungs-Fraktion der SPD dagegen nutzte am Mittwochabend die Gelegenheit für einen Angriff. Der Kölner Gesundheitsökonom Karl Lauterbach erklärte, dass durch das Merkel-Stoiber-Modell über 18 Millionen Haushalte zuschussbedürftig würden. Dies entspreche 40 Millionen Personen, deren Versicherungsprämien aus allgemeinen Mitteln aufgestockt werden müssten. Außerdem hätten Merkel und Stoiber ein Finanzierungsloch von 14,6 Milliarden Euro gelassen. „Diese Lücke bleibt unerklärt“, sagte Lauterbach.

Das SPD-Präsidiumsmitglied Andrea Nahles sagte, das „Halbfertigprodukt“ von Merkel und Stoiber werde bestimmt bald überholt sein. Mit „gewisser Befriedigung“ nahmen Regierungsberater Lauterbach und die Parteilinke Nahles wahr, dass auch die Wirtschaftsweisen nun für ein Ende des Privilegiensystems für privat Versicherte plädierten. Insgesamt, meinten sie, habe das misslungene Merkel-Stoiber-Modell und die Wirtschaftsweisen-Pauschale die Idee der Kopfpauschale zurückgeworfen. „Wir dagegen sind konkreter als alle konkurrierenden Vorschläge“, sagte Nahles.

Sie zieht derzeit mit Lauterbach durchs Land, um die unteren und mittleren Ränge der SPD für die Bürgerversicherung zu gewinnen. Die beiden setzen darauf, dass dann auch der Kanzler bald findet, mit einem runden Entwurf des Gesundheitssystems lasse sich eine Bundestagswahl gewinnen. „Noch sind wir allerdings beim Einsäen“, sagte Nahles, „und nicht beim Ernten.“ ULRIKE WINKELMANN