Unterschriftendemokratie in Venezuela

Vier Tage lang sammelte die bürgerliche Opposition Unterschriften gegen Präsident Hugo Chávez. Ziel: Ein Referendum zur Abwahl des Linksnationalisten. Der strotzt vor Selbstvertrauen und sammelt seinerseits gegen oppositionelle Abgeordnete

VON GERHARD DILGER

In Venezuela scheint ein demokratischer Regierungswechsel in den Bereich des Möglichen gerückt. Von Freitag bis gestern sammelte die bürgerliche Opposition Unterschriften für ein Referendum, mit dem der linksnationalistische Staatschef Hugo Chávez in wenigen Monaten abgewählt werden könnte. Dazu müssten jetzt 20 Prozent der Wahlberechtigten, also 2,4 Millionen VenezolanerInnen unterschrieben haben.

Vor vielen der 2.680 Sammelstellen im ganzen Land bildeten sich lange Schlangen, nur vereinzelt kam es zu Rangeleien. „Die demokratische Lawine in Richtung Frieden und Versöhnung ist aufhaltbar“, jubelte Nelson Lara vom Oppositionsbündnis „Coordinadora Democrática“. „Kleine, sehr punktuelle Zwischenfälle“ habe es gegeben, sagte sein Kollege Asdrúbal Aguiar. Der Entspannungskurs, den sowohl Hugo Chávez als auch seine Gegner vor dem Auftakt der Unterschriftensammlung nach Kräften gefördert hatten, zahlte sich aus. Einem Oppositionssender gab der Staatschef erstmals seit zwei Jahren ein Interview, am Sonntag verzichtete er auf seine wöchentliche Livesendung „Aló Presidente“.

Für Venezuela, das vor Jahresfrist am Rande eines Bürgerkriegs stand, ist die jetzige Entwicklung bemerkenswert. Ermöglicht wurde sie durch die Verfassung aus dem Jahr 2000, von der Chávez bei seinen Ansprachen stets beschwörend eine blaue Westentaschenversion in die Kamera hält: Gegen alle gewählten PolitikerInnen kann nach der Hälfte ihrer Amtszeit ein Abwahlverfahren angestrengt werden. Nach einem gescheiterten Putschversuch im April 2002 und dem zweimonatigen Ausstand im Dezember und Januar, aus dem Chávez gestärkt hervorging, hatte die große Mehrheit der Opposition plötzlich die Vorzüge der Verfassung entdeckt. „Unsere einzige Waffe ist der Füller“, versicherte selbst der geschasste Putschistengeneral Manuel Rosendo.

Es bleibt ihm auch kaum etwas anderes übrig. Zwar ist das Land weiterhin polarisiert, der Hass der weißen Oberschicht auf den mestizischen Emporkömmling und Ex-Oberst Chávez unverändert groß. Der jedoch nutzte den Streik, um in diesem Jahr den wichtigen Erdölsektor unter seine Kontrolle zu bekommen. Von Januar bis September sank das Bruttoinlandsprodukt im Vergleich zum Vorjahr um 14,9 Prozent – weitgehend eine Folge des Streiks, wie selbst Chávez-Kritiker einräumen. Dem Präsidenten ist es auch gelungen, einige der Sozialreformen auf den Weg zu bringen, wegen derer die Opposition vor zwei Jahren auf die Barrikaden ging. Bis August erhielten 63.000 Familien je eine Parzelle Staatsland, 45.000 Familien aus Armenvierteln bekamen Besitztitel überschrieben. Pünktlich vor der Unterschriftensammlung kündigte Chávez Sonderprogramme im Bildungs- und Gesundheitsbereich an.

Vor einer Woche sammelten die Chavistas ebenfalls Unterschriften für die Abberufung von 37 Abgeordneten. Als „Prozess, den man in der Hemisphäre noch nicht gesehen hat“, lobte eine Beobachterkommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und des Carter Center aus Atlanta den jetzigen Demokratieschub. An 97 Prozent der Sammelstellen habe es „keine Probleme“ gegeben, sagte OAS-Generalsekretär César Gaviria, auch die sachliche Berichterstattung auf allen Seiten habe zu einem „ruhigen, friedlichen Klima“ beigetragen.

Bis der Nationale Wahlrat die Unterschriften geprüft und autorisiert hat, kann es Wochen, ja Monate dauern. Die Unternehmerchefin Albis Muñoz befürchtet schon jetzt einen „Hürdenlauf“. Chávez selbst schließt aus, dass er ein Referendum im März oder April verlieren könnte: „Ich mache Wahlkampf für 2006“, verkündete er am Freitag. „2013 übergebe ich die Regierung an einen Revolutionär oder eine Revolutionärin. Für Venezuela gibt es kein Zurück.“