PROBE & PREMIERE: „DAS STILLE KIND“ IN BREMEN
: Schlaflose Angehörige einer moralischen Anstalt

Vor allem die ersten Wochen seien hart gewesen, sagt eine Schauspielerin. Das war die Recherchephase

In England wurde das Thema Kinderverwahrlosung deutlich früher als in Deutschland öffentlich diskutiert. Dort schrieb Martin Crimp, einer der erfolgreichsten zeitgenössischen Dramatiker, 1991 „Getting Attention“. Als „Das stille Kind“ hat das Stück heute Premiere in Bremen. Es ist die deutsche Zweitaufführung: Nach der Hamburger Premiere durch Charlotte Kleist 1992 verschwand „Das stille Kind“ von den hiesigen Spielplänen. Von realen Verwahrlosungsfällen war umso mehr zu erfahren.

Erste Durchlaufprobe, zweiter Teil: Der Mann, Marke Bierdose, fummelt an kaputtem Spielzeug herum, das Kind selbst bleibt das ganze Stück über hinter verschlossenen Türen. Carol schiebt Pizzen in die Mikrowelle und sagt „Nicht wahr, Schatz?“ Noch sitzt die Regie im Parkett, unheilschwangere Elektroklänge grundieren den Raum. Dann rennt Carol plötzlich nach oben und hämmert wild an den Türen der Nachbarschaft. Dort rührt sich nichts, dafür beugt sich der Bühnenbildner besorgt vor. „Sie wird leiser klopfen“, versichert die Regieassistentin. Die Kulisse war bei Carols Ausbruch bedenklich ins Beben gekommen.

Doch dann wird die Szenerie noch wilder: Zwei Maskierte hangeln heran und trommeln stompmäßig gegen die Gerüste. „Das ist der Ausbruch des Unzivilisierten, das die ganze Zeit lauert“, erläutert Regisseur Christian Pade später. Warum maskiert sich das Wilde als Außenminister a. D.? Tut es nicht, sagt Ausstatter Alexander Lintl: „Bei der Aufführung sind das Affenköpfe. Genscher und Fischer haben wir als vorläufigen Ersatz im Fundus gefunden.“

Alles andere steht. Vor allem die ersten Wochen seien hart gewesen, sagt Gabriele Möller-Lukasz, die eine seltsam hin- und wegschauende Nachbarin spielt. Das war die Recherchephase, in der sich das Ensemble intensiv mit einschlägigen Dokumentationen auseinander setzte. Für Möller-Lukasz, altgediente Mimin des Hauses, ist die Arbeit am „Stillen Kind“ ebenso „anstrengend“ wie „richtig“ – vergleichbar mit den kräftezehrenden Endlosauftritten für „Die letzten Tage der Menschheit“, mit denen das Theater den von Zigtausend Zwangsarbeitern errichteten U-Bootbunker „Valentin“ ins Bewusstsein der Stadt rückte. Pade ergänzt: „Es ist gut, wenn man sich wieder mal als Angehöriger einer moralischen Anstalt fühlen kann.“

Aus Pades Mund, der nach dieser Produktion seinen Posten als Hausregisseur des Theaters an den Nagel hängt, klingt dieser Schiller-Verweis durchaus nicht bildungsbürgerlich.

Wie haben die anderen Schauspieler auf die Rollenzuweisungen reagiert? „Für Hamlet melden sich alle Herren gern“, sagt die Dramaturgin etwas zögernd. Aber es habe auch keiner gesagt: „Ich kann das nicht.“ Martin Baum, im Stück der Stiefvater, erzählt von schlaflosen Nächten. Und dem gruseligen Gefühl, abends die eigenen Kinder zu baden, wenn man seiner Theatertochter gerade die Fußsohlen verbrüht hat. Ist Bremen prädestiniert für diese Produktion? Nein, sagt Pade. „Das Schlimme ist doch, dass sich das Thema schon lange wieder von hier weg bewegt hat.“ Henning Bleyl

Premiere heute, 20 Uhr, Neues Schauspielhaus Bremen