„Für die Opfer ist NRW ein Entwicklungsland“

Die Grünen im NRW-Landtag haben in dieser Woche eine große Anfrage zum Opferschutz gestellt. Etta Hallenga vom Düsseldorfer Frauennotruf fordert im taz-Interview geschulte RichterInnen und Respekt für die Opfer von Gewalttaten

taz: Frau Hallenga, seit diesem September hat Nordrhein-Westfalen eines der fortschrittlichsten Opferschutzgesetze in Deutschland. Opfer von Gewalt haben große Inforechte, sie werden bei Gerichtsverfahren geschützt. Gilt es das nicht zu verteidigen?Etta Hallenga: Klar, bundesweit betrachtet sollte NRW den Mund halten, da brauchen wir keine Anfrage. Wir sind sehr weit vorne, was Netzwerke und Hilfsangebote angeht. Aus Sicht der Opfer sind wir aber ein Entwicklungsland. Wir müssen jedes Jahr neu kämpfen, dass Beratungsstellen und Notrufe nicht gestrichen werden.Wie könnten Gerichtsverfahren besser laufen?

Bis heute haben Richter und Richterinnen oft keine Ahnung über die Auswirkungen von sexueller Gewalt, von Traumata. Nur die StaatsanwältInnen haben dafür Sonderzuständigkeiten und damit Fortbildungen. Außerdem gibt es oft für einen Täter viele Staatsanwälte, wenn er verschiedene Delikte verübt hat, wie Stalking und Körperverletzung. Das lässt dann seine oder – seltener ihre – einzelnen Taten geringer erscheinen. Vor Gericht werden die Frauen oft alleine gelassen.

Im Düsseldorfer Landgericht gibt es Zeuginnenzimmer.

Das ist eine Luxussituation, die absolute Ausnahme. Das muss Standard werden: Traumatisierte Menschen brauchen Begleitung und Betreuung. Und zwar professionelle, nicht von Ehrenamtlichen oder JahrespraktikantInnen. Das können Männer oder Frauen sein.

Sollten nicht endlich alle Opfer ihre Aussage über Video in den Gerichtssaal übertragen lassen können?

Das ist nicht immer sinnvoll. Viele Frauen wurden während der Straftat gefilmt, der Täter hat zum Beispiel pornographische Filme gedreht. Diese Frauen wollen nicht wieder gefilmt werden und finden es unter Umständen unerträglich, dass ihr Mann oder der Schläger/Vergewaltiger im Gericht sie auf Video beobachtet, während sie den Angeschuldigten nicht sehen kann. Aufzeichnungen dürfen nur auf ausdrücklichen Wunsch der Opfer gemacht werden.

Erkennt die Polizei die Opfer ausreichend an?

Sehr unterschiedlich. Die geschulten MitarbeiterInnen führen die Frauen dann in ruhige Zimmer, lassen ihnen genug Zeit für ihre Aussagen. Die Kollegen und Kolleginnen aber, die vor Ort mit der Straftat konfrontiert sind, werden oft von Vorurteilen geleitet. Einer Prostituierten zeigen sie oft kein Mitgefühl, ziehen bei ihrer Aussage zweifelnd die Augenbraue hoch. Oder Frauen, die von ihren Männern gezwungen wurden, Alkohol zu trinken, wird nicht geglaubt.

Die Polizei darf aber doch nicht parteiisch sein und sich einseitig dem Opfer zuwenden.

Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Die Polizei soll nicht Sozialarbeiter spielen, Händchen halten und die Frauen hätscheln und tätscheln. Sie soll den Opfern Respekt zollen, nur so können auch beweiskräftige Aussagen für die Gerichtsverhandlung gesammelt werden. Letzen Endes geht es darum, die Täter verurteilen zu können.

INTERVIEW: ANNIKA JOERES