Hinterhof der Kolonialgeschichte

Frankreich hat eine „Route zur Abschaffung der Sklaverei“. Sie verläuft vom Grenzgebiet zur Schweiz, Franche-Comté, über das Territoire de Belfort und das Elsass nach Lothringen. Dort solidarisierten sich die Bauern schon früh mit den „Leiden der Neger“

„Unser Herz schmerzt, wenn wir an das Leidender Neger denken“

VON DOROTHEA HAHN

Die französischen Städte, die mit dem Sklavenhandel reich geworden sind, liegen im Westen. Bordeaux, La Rochelle und Nantes lebten jahrhundertelang im Rhythmus des „Dreiecksgeschäftes“. Von ihren Häfen aus fuhren Schiffe voller französischer Stoffe und Glasperlen nach Afrika. Dort tauschten sie ihre Ladung gegen Menschen in Ketten, die sie in die Karibik transportierten. Mit dem Erlös aus dem Sklavenverkauf erwarben sie Rohstoffe aus den Kolonien: Zucker, Kaffee und Indigo. Ganz ähnlich organisierten die anderen Kolonialmächte ihren globalen Handel mit der menschlichen Ware. Gemeinsam verschleppten sie mehr als 20 Millionen Afrikaner.

Frankreichs Politiker haben sich spät an das heikle Kapitel Geschichte herangewagt. Seit Ende der 90er-Jahre organisieren sie Ausstellungen, Debatten und Veröffentlichungen. Vorläufiger Höhepunkt war das Jahr 2001. Da erklärte das Parlament die Sklaverei zu einem „Verbrechen gegen die Menschheit“. Der Schritt, der bis heute weltweit einzigartig blieb, hat symbolischen Charakter. Er soll keineswegs Nachfahren von Sklaven zu Schadensersatzforderungen ermuntern. Hingegen sind die Experten aufgefordert, Gedenktage anzuregen sowie Denkmäler. Sie sollen Schulbuchinhalte zur Sklaverei entwickeln. Das Thema ist im Geschichtsunterricht ein weißer Fleck.

Nun haben die Bemühungen erstmals touristische Folgen. Mit Unterstützung der Unesco hat Frankreich in diesem Jahr eine „Route zur Abschaffung der Sklaverei“ eröffnet. Es ist kein Zufall, dass sie nicht in die Hafenstädte an der Atlantikküste führt. Die tun sich immer noch schwer mit dem Erinnern an den Ursprung des eigenen Reichtums. Die Route verläuft durch das extreme andere Ende des Landes: vom Grenzgebiet zur Schweiz, Franche-Comté, über das Territoire de Belfort und das Elsass bis hin nach Lothringen. Sie durchquert bäuerliche Regionen und Bergbaugebiete, die fast nichts mit dem „Dreiecksgeschäft“ zu tun hatten. Im 18. und 19. Jahrhundert haben in diesen östlichen Regionen mehrfach Diskussionen über die Abschaffung der Sklaverei begonnen.

In Champagney zum Beispiel. Im harten Winter 1788–1789 haben viele der 200 Haushalte des Dorfes im Territoire de Belfort an Hunger und Kälte gelitten. Als König Ludwig XVI. das Volk auffordert, „Beschwerdebücher“ zu schreiben, sind die Bürger von Champagney sofort dabei. Am 19. März 1789 versammeln sie sich in ihrer Kirche. Sie beklagen die hohen Steuern und wünschen sich mehr Abholzrechte in den umgebenden Wäldern. In Artikel 29 kommen sie auf ein Thema zu sprechen, das nichts mit ihrem Alltag als Bauern und Holzfäller in Ostfrankreich zu tun hat. „Unser Herz schmerzt, wenn wir an das Leiden der Neger in den Kolonien denken“, schreiben sie: „sie werden schlechter behandelt als Arbeitstiere.“ Aus Sorge um das künftige Ansehen Frankreichs und wegen ihrer Religion bitten sie darum, die „Sklaven in nützliche Untertanen des Königs und des Vaterlandes zu verwandeln“.

Die meisten Bürger von Champagney können weder lesen noch schreiben. Die einzige schwarze Person, die sie gesehen haben, ist der Mohr unter den Heiligen Drei Königen auf dem Altarbild in ihrer Kirche. Von den 2.000 Gemeinden, die in den vorrevolutionären Monaten in Frankreich Beschwerdebücher schreiben, sind sie die einzige, die eine klare Forderung nach Abschaffung der Sklaverei erhebt. Allerdings hat der König, der vier Monate später vom Thron gestürzt werden soll, es nie zu Gesicht bekommen.

215 Jahre danach sind der Kohlebergbau, die Landwirtschaft und die Webereien aus Champagney verschwunden. Schwarze Einwohner gibt es nicht. Wohl aber ein liebevoll gemachtes Museum der „Négritude“, das die kleine Geschichte von Champagney und die großen Verbrechen der Sklaverei erzählt. Marie-Thérèse Olivier, pensionierte Biologielehrerin, leitet es. Der verstorbene senegalesische Präsident Leopold Senghor hat es in den 70er-Jahren wohlwollend aus der Ferne unterstützt.

Ein kalter Ort des Erinnerns ist die auf fast 1.000 Meter Höhe direkt an der Schweizer Grenze gelegene Festung Joux. Sie diente als Staatsgefängnis. Gegenwärtig wird sie zu einem Museum über den Kampf für die Freiheit ausgebaut. Generationen von Revolutionären und Konterrevolutionären haben in den mittelalterlichen Gemäuern gesessen. Gegenwärtig ist Toussaint Louverture der prominenteste von ihnen. Noch vor wenigen Jahren wurde er bei Klassenausflügen zur Festung Joux nicht einmal erwähnt. Der Anführer des Sklavenaufstandes kam im Geschichtsunterricht nicht vor.

In der Festung Joux verbringt Toussaint Louverture die letzten acht Monate seines Lebens. Das Fenster seiner Zelle ist bis auf einen schmalen Spalt zugemauert worden. Sein einziger Außenkontakt ist der Wärter, der ihm das schwer verdauliche französische Essen bringt und ihn über das Versteck seines angeblichen Goldschatzes auf Haiti aushorcht. Schon bei seiner Ankunft klagt der 60-jährige Toussaint Louverture über Kopf-, Bauch- und Brustschmerzen. In der Nacht zum 7. April 1803 stirbt er. Die Stirn an die Seitenwand des Kamins gelehnt, mit dem er seine Zelle auf tropische Temperaturen heizt. Die Leiche wird in der Festung verscharrt. Bei späteren Arbeiten an einem neuen Befestigungsring um Joux wird sie mit verbaut. Ihr genauer Platz lässt sich nicht mehr bestimmen. Als Haiti im Jahr 1982 nach den Überresten des Helden verlangt, schickt Frankreich eine Urne voll Erde von der Festung.

In Haiti ist Toussaint Louverture ein Held. Und wird für politische Propaganda vereinnahmt. Im Januar, zum zweihundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit, ließ der geschasste Präsident Aristide landesweit den Slogan plakatieren: „Zwei Jahrhunderte, zwei Männer, eine Idee“.

Im Land der einstigen Kolonialmacht ist Toussaint Louverture nur einer Minderheit bekannt. Wie sein Land. Kein einziger französischer Staats- oder Regierungschef ist je nach Haiti gereist. Frankreich hat die einstige Kolonie bitter büßen lassen: dafür, dass sie die Sklaverei aus eigener Kraft abgeschafft hat. Und dafür, dass sie die Kolonialmacht vertrieben hat. Im 19. Jahrhundert zwang Paris Haiti zur Zahlung einer „Kolonialschuld“. Sie ruinierte das Land wirtschaftlich. Im 20. Jahrhundert verdrängten die Franzosen Haiti aus ihrem kollektiven Gedächtnis. Heute, da die einst reichste Kolonie das ärmste Land der westlichen Hemisphäre und eines der politisch instabilsten geworden ist, wissen viele Franzosen nicht einmal mehr, dass es einmal eine französische Kolonie war.

Im lothringischen Ort Emberménil reifen vor der Revolution die Ideen von Dorfpfarrer Henri Grégoire heran. Er kämpft für die Gleichberechtigung der Juden, für die Abschaffung der Sklaverei und ist Mitglied der Mitte der 70er-Jahre zuerst in London, dann ich Paris gegründeten Gesellschaft der „Freunde der Schwarzen“. Als der französische Konvent am 4. Februar 1794 unter dem Druck des Sklavenaufstandes von Saint-Domingue als erstes Land die Sklaverei abschafft, schwärmt der Pfarrer: „Die künftigen Generationen werden die universelle Freiheit rühmen.“ Napoleon belehrt ihn acht Jahre später, als er die Sklaverei wieder einführt, eines Schlechteren. Die katholische Kirche soll den Pfarrer links liegen lassen. Heute ist sein Wohnhaus ein Museum.

Frankreich, das mit seiner vorübergehenden ersten Abschaffung der Sklaverei die Avantgarde war, gerät im 19. Jahrhundert in den Rückstand. Die meisten Kolonialmächte – darunter Großbritannien im Jahr 1833 – geben die Sklaverei auf. Auch aus wirtschaftlichen Gründen. Die Sklavenwirtschaft wird den Unternehmern in den Kolonien zu teuer. Und zahlreiche typische Sklavenproduktionen werden nicht mehr gebraucht. Zuckerrohrplantagen beispielsweise werden zunehmend durch Zuckerrüben in Europa ersetzt. Auch bei französischen Intellektuellen kommt der Ruf nach Abschaffung der Sklaverei in Mode. Erste Biografien von Toussaint Louverture erscheinen. Victor Schoelcher, angehender Kolonialpolitiker und Sohn eines Porzellanfabrikanten, schreibt nach Reisen durch die Karibik Pamphlete gegen die Sklaverei. 1848 setzt sich Schoelcher durch. Die französische Regierung, deren Mitglied er geworden ist, schafft die Sklaverei ab. Zum zweiten und letzten Mal. Schoelchers Vorfahren stammten aus Fessenheim im Elsass. Sie waren Bauern. Daran erinnert eine mit landwirtschaftlichem Gerät und mit Fototafeln über die Kolonien vollgestellte Scheune im Dorf.