Kein egalitaristischer Protest

Aber was ist mit der ökonomischen Gleichheit? Wolfgang Thierse, Julian Nida-Rümelin und Gesine Schwan diskutierten angeregt darüber, ob und wie man auf den Gleichheitsgrundsatz verzichten kann oder sogar muss

Regelmäßig veranstaltet die gute alte SPD in ihrem schönen Berliner Hauptquartier Kolloquien, bei denen Philosophie und Politik zusammenkommen sollen. Legendär ist die Veranstaltung von 1998, als Jürgen Habermas und Gerhard Schröder diskutierten, vor der für die SPD erfolgreichen Bundestagswahl.

Diesmal war der ranghöchste Politiker der Bundestagspräsident, Wolfgang Thierse. „Der zweitwichtigste Mann im Staat, nach dem Bundespräsidenten“, wie zwei Sitzreihen weiter ein Student seinem ausländischen Professor erläuterte. Den Hauptvortrag hielt, auf Englisch, Thomas Scanlon aus Harvard, ein richtiger Yankee von 64 Jahren, groß, mager, grau und witzig. Zur Begrüßung beglückwünschte er das Publikum, das die Atriumhalle des SPD-Hauses vollständig ausfüllte, dazu, dass Deutschland eine Sozialdemokratie sein Eigen nenne; wovon seine Nation weit entfernt sei.

„Politische Gleichheit“ war das Thema, und Julian Nida-Rümelin – den, wegen seines Lockenkopfs, der Bundeskanzler mal zärtlich-respektlos „meinen Kulturpudel“ genannt hat, als Nida-Rümelin noch Staatsminister war – erzählte manuskriptlos souverän die Philosophiegeschichte: Wie in der Antike Aristoteles selbstverständlich von fundamentalen Unterschieden ausging zwischen Mensch und Sklave, zwischen Mann und Frau – diese ähnelt dem Haustier –, während die moderne Welt das Gleichheitsprinzip in moralischer, politischer und juristischer Hinsicht durchsetzte. Aber was ist mit ökonomischer Gleichheit? Die ehrwürdige Grundfrage der Sozialdemokratie.

Professor Scanlon – wie ihn alle Diskutanten titulierten – entwickelte in seinem ein wenig zu langen Vortrag eine faszinierende Kasuistik von Problemstellungen. Egalitarismus sollte man nicht unter allen Umständen ins Spiel bringen. Die Lebenserwartung des amerikanischen Mannes beträgt 73,4 Jahre, die Lebenserwartung eines Mannes im afrikanischen Malawi liegt bei 37,1 Jahren. Will man hier moralisch für eine Intervention plädieren, kann man auf das Gleichheitsprinzip verzichten. Nicht zuletzt deshalb, weil es keine übergeordnete Instanz gibt, an die sich appellieren ließe; und das Durchschnittsalter des amerikanischen Mannes zu senken, das käme dem Mann in Malawi ja keinesfalls zugute.

Anders steht es um die Diskrepanz zwischen Managergehältern – ein Exempel, das später die Diskussion anhaltend beschäftigte – und dem Durchschnittseinkommen des Werktätigen. Hier kann man Egalitarismus durchaus in Anschlag bringen. Er richtet sich aber gegen die Prozeduren, mittels deren eine Gruppe ihre eigenen Einkünfte festlegt. Demgegenüber erwecken die horrenden Gagen für Film- und Sportstars keinen egalitaristischen Protest.

Gesine Schwan – durch eine Grippe gehandikapt – brachte als Koreferentin gegen diese elegante amerikanische Dekonstruktion nachdrücklich die deutsche Tradition ins Spiel. In der Wirklichkeit herrscht unübersehbar Ungleichheit; es ist die Norm, das Ideal, welches Gleichheit fordert, ein Postulat, das letzten Endes nur religiös begründet werden kann. Erkennbar berührte das die Versammlung von älteren Damen und Herren, aber auch von vielen jungen Leuten tiefer als der amerikanische Pragmatismus, der auch moralisch anspruchsvollen Gefühlen wie Neid und Mitleid offener begegnet als die deutsche Prinzipienfestigkeit.

Nach der Mittagspause kamen noch zwei jüngere Akademiker sowie die Bundesministerin für Justiz, Brigitte Zypries, dazu, und es entwickelte sich eine komplexe Diskussion über die moralphilosophische Begründung des deutschen Sozialstaats sowie seines gegenwärtigen Rückbaus, eine Diskussion, in der Wolfgang Thierse und Julian Nida-Rümelin Glanzlichter setzten. In welchem Ausmaß ermöglicht Ungleichbehandlung Gerechtigkeit?

Stets treten bei solchen Veranstaltungen Freaks auf, die laut und unverständlich radikalere Positionen vertreten. Diesmal waren es drei. Die Philosophen auf dem Podium behandelten sie freundlich und souverän nach dem Gleichheitsprinzip, als Ebenbürtige. MICHAEL RUTSCHKY