Orange, die Farbe der Hoffnung

Die morgige Stichwahl in der Ukraine wird auch die Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit im übrigen Osteuropa beeinflussen. Das sollte die EU interessieren

Eine arme und labile Ukraine, deren Bürger millionenfach gen Westen streben, schadet der EU

Orange ist in Kiew derzeit die Farbe der Hoffnung. In der Hauptstadt der Ukraine flattern orangefarbene Bänder an Autoantennen, an Studentenrucksäcken und Knopflöchern, denn Orange ist die Farbe des oppositionellen Parteienbündnisses „Nascha Ukraina“ (Unsere Ukraine) und des Präsidentschaftskandidaten Wiktor Juschtschenko, der morgen in einer Stichwahl gegen den amtierenden Ministerpräsidenten Wiktor Janukowitsch antritt.

Die Wahl ist nicht nur entscheidend für die Zukunft der Ukraine, weil sie die junge Demokratie auf die Probe stellt und das Land entweder enger an Russland oder enger an Westeuropa heranrückt. Langfristig wird der Wahlausgang die Entwicklung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch im übrigen Osteuropa beeinflussen – und geht damit den ganzen Kontinent etwas an.

Schicksalhaft ist der Vorgang der Wahl selbst: Beim ersten Durchgang vor drei Wochen bedrohte die Regierung Lehrer, Studenten und Soldaten, damit sie Janukowitsch wählen; sie behinderte die freie Berichterstattung über den Wahlkampf und betrog bei der Stimmauszählung. Mancher, der heute in Kiew ein orange Band trägt, fordert damit freie Wahlen und Bürgerrechte.

Zwar sind Umfragen in der Ukraine mit Vorsicht zu genießen, doch scheint sicher, dass Herausforderer Juschtschenko in der Wählergunst vorn liegt. Schon die erste Runde vor drei Woche konnte er – denkbar knapp – für sich entscheiden. Sollte die Regierung das Votum der Bevölkerung nun ganz offensichtlich ignorieren und ihren Kandidaten auch gegen den Wählerwillen durchsetzen, dann ist es mit der Demokratie in der Ukraine erst einmal vorbei.

Gelänge Juschtschenko dagegen der Einzug in den Präsidentenpalast, dann wäre dies der erste Regierungswechsel durch Wahlen in der Postsowjetrepublik. Ob er dann auch, wie versprochen, Pressefreiheit, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit bringt, müsste die neue Mannschaft erst noch beweisen. Sie hätte es aber mit einer Bevölkerung zu tun, die erfahren hat, dass ihre Stimme zählt.

Einen Rückschritt bedeutet der Wahlkampf für den schwierigen Prozess der Nationenbildung der erst seit 13 Jahre unabhängigen Ukraine. Beide Kandidaten haben aus der Präsidentenwahl eine Abstimmung über die künftige Identität des Landes zwischen Russland und Europa gemacht. Janukowitsch hat seinen Herausforderer als Marionette der USA und westukrainischen Nationalisten verunglimpft, Juschtschenko den Ministerpräsidenten als Statthalter des russischen Präsidenten Wladimir Putin in der Ukraine dämonisiert. Damit haben sie das Land schon vor dem ersten Wahlgang gespalten: Der Osten, sprachlich und historisch eng mit Russland verbunden, hat mehrheitlich für Janukowitsch gestimmt; der ukrainischsprachige Westen, lange polnisch und österreichisch geprägt, für Juschtschenko.

Nun herrscht in der Bevölkerung gegenseitiges Misstrauen – im westukrainischen Lemberg werden am Sonntag Wahlbeobachter aus Donetsk erwartet, Studenten aus Iwano-Frankivsk im Westen fahren nach Poltawa im Osten, um zu überwachen, ob alles mit rechten Dingen zugeht. Die Anhänger der beiden Kandidaten stehen sich ebenso erbittert gegenüber wie diese selbst. Dabei sind beide Politiker Teil der polit-ökonomischen Elite, die sich an der Privatisierung staatlicher Betriebe oder Geschäften mit dem Staat bereichert und das Land dabei zugrunde gerichtet hat.

Das Bruttosozialprodukt der Ukraine ist heute, trotz des Wachstums der vergangenen Jahre, deutlich niedriger als 1991. Auch haben Janukowitsch und Juschtschenko keine klar voneinander zu unterscheidende Programme. Kaum ein Wähler wird sagen können, wie sich die beiden eine Reform der erbärmlichen Gesundheits-, Renten- oder Bildungssysteme vorstellen. Und skurrilerweise ist den Kandidaten sogar die Polarisierung zwischen Ost und West gelungen, ohne sich selbst auf einen außenpolitischen Kurs festzulegen.

Dabei sind konkrete und weitreichende Entscheidungen fällig. Die Verträge mit Russland, Weißrussland und Kasachstan für einen einheitlichen Wirtschaftsraum stehen im Dezember zur Unterzeichnung an. Moskau, dass sich mit der Unabhängigkeit der Ukraine bis heute nicht abgefunden hat, sieht das Land als legitimen Einflussbereich und bietet ihm eine Perspektive in einem Block wirtschaftlich prosperierender, autokratisch regierter Staaten.

Deshalb kann Moskau dem Kandidaten Juschtschenko rein gar nichts abgewinnen – weder als Beispiel dafür, dass Stabilität auch mit Opposition und Meinungsfreiheit möglich ist, noch als Symbolfigur der Ukrainer, die sich eine enge Bindung an den Westen wünschen. Also machte Putin unverhohlen und eifrig Wahlkampf für Janukowitsch.

Währenddessen streitet man in der Europäischen Union über Beitrittsverhandlungen mit der Türkei und damit über die künftigen Grenzen der Gemeinschaft. Zumindest Westeuropa gestattet es sich dabei fahrlässig, den Nachbarn im Osten zu ignorieren. Die zuständigen Beamten in Brüssel haben die Ukraine in ihr Konzept der Nachbarschaftspolitik einbezogen, doch das hört sich herzlicher an, als es ist. Denn hinter dem Begriff verbergen sich vage formulierte Absichtserklärungen – aber keine Beitrittsperspektive.

Zwar hat die Ukraine mit Polen oder den baltischen Staaten Fürsprecher in der neuen EU. Aber deren Einfluss ist noch zu gering, um das Thema auf die Agenda zu bringen. Dabei unterschätzt Westeuropa die Ukraine sowohl in ihren Konfliktpotenzialen als auch in ihrer strategischen Bedeutung für die Demokratisierung Osteuropas: Eine demokratische, rechtsstaatliche Ukraine wird auf ihre Nachbarn ausstrahlen.

Wenn die Regierung ihren Kandidaten gegen die Wähler durchsetzt, ist es mit der Demokratie vorbei

Zudem bestehen zwischen der Ostukraine und Russland enge politische, wirtschaftliche und private Bindungen. Langfristig würde es Putins Autokratismus schaden, gelänge es der Ukraine, Stabilität und Wohlstand mit Freiheit und Demokratie zu verbinden. Genauso wie es der EU schaden wird, wenn die Ukraine ein armes und labiles Land bleibt, dessen Einwohner millionenfach gen Westen streben.

Auch Umweltverschmutzung oder explodierende Aidsraten machen keinen Halt vor EU-Außengrenzen. Eine starke und kritische Zivilgesellschaft, die diese Probleme in der Ukraine erkennt und bekämpft, ist deswegen im westeuropäischen Interesse – und nur Westeuropa kann helfen, sie zu entwickeln. Es geht dabei nicht nur um Geld, etwa für gemeinsame Projekte im Jugendaustausch oder Umweltschutz an der Grenze zu Polen.

Notwendig ist ein kritischer, intensiver und ergebnisoffener Dialog zwischen der Ukraine und der EU. Es gibt bisher kein Beispiel für einen osteuropäischen Transformationsstaat, der Bürgerrechte und Demokratie ohne die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft entwickelt hätte. Auch die Ukrainer, die jetzt orangefarbene Bänder tragen, werden das allein nicht schaffen.

HEIKE HOLDINGHAUSEN