Zeitungskorrespondent Riley

Von Mark Twain
Einer der besten Männer in Washington – oder anderswo – ist RILEY, Korrespondent einer der großen Tageszeitungen von San Francisco. Riley ist voller Humor und hat eine unfehlbare Ader für Ironie, die das Gespräch mit ihm durch und durch unterhaltsam macht (solange es sich um jemand anderen dreht). Indes, ungeachtet dieser Vorzüge, die allein einen Mann befähigen, treffliche und appetitliche Artikel zu verfassen, sind Rileys Zeitungsbeiträge oft von überirdischer Feierlichkeit und phantasieloser Hingabe an versteinerte Tatsachen, die jene erstaunen und quälen müssen, die mit seinem nichtöffentlichen Charakter vertraut sind. Um diese wunderliche Sache zu erklären, sagt er, er sei von seinen Auftraggebern nach Washington entsandt, um Fakten zu liefern, nicht Schrullen, und einige Male dem Verlust seiner Stelle nahe gewesen, weil er witzige Anmerkungen habe fallenlassen, die, indem sie in Zentralredaktionen nicht erwartet und folglich nicht verstanden wurden, als dunkle, verdammte Reden aufgefaßt worden seien, mit dem Zweck, Hinweise und Warnungen an mörderische Geheimbünde zu übermitteln, oder etwas in dieser Art, und die man darum mit einem Schaudern und einem Gebet herausgetilgt und in den Ofen befördert habe. Riley sagt, das Verlangen, einen witzsprühenden, fesselnden Artikel zu verfassen, plage ihn bisweilen derart, daß er einfach nicht widerstehen könne; woraufhin er sich daher in seine Bude verfüge, um in den Freuden hemmungsloser Kritzelei zu schwelgen; sodann jedoch und mit Schmerzen, wie sie nur eine Mutter empfinden kann, meuchelt er die schönen Kinder seiner Phantasie und köchelt seinen Artikel auf das geforderte trübe Maß der Stichhaltigkeit zusammen.

Ich weiß, wovon ich spreche, habe ich Riley doch mehr als einmal eben dies tun gesehen. Oft habe ich mit ihm gelacht über eine treffende Passage und gramvoll mit angesehen, wie seine Feder sie umpflügte. „Ich mußte das schreiben oder sterben“, pflegte er zu sagen, „und ich muß es tilgen oder verhungern. Man würde es nicht hinnehmen, wissen Sie.“ Riley, meine ich, ist die unterhaltsamste Gesellschaft, die ich kenne. Im Winter  67/ 68 logierten wir oft gemeinsam in Washington, zogen gemütlich von Ort zu Ort und sorgten für Aufsehen, indem wir unsere Rechnungen bezahlten – eine Gewohnheit, die einen in Washington unweigerlich verdächtig macht. Riley pflegte ausführlich von seiner Reise nach Kalifornien in den alten Zeiten zu berichten, über die Landenge und den San Juan entlang, wie er in San Francisco sein Leben als Brotbäcker und Kegelaufsteller in Bowlingbahnen fristete, als Rechtsanwalt und Austernknacker, Vorträge hielt, Französisch unterrichtete und kellnerte, für Zeitungen berichtete, Tanzstunden gab und bei Gericht chinesisch dolmetschte – letzteres erwies sich als lukrativ; Riley lebte ansehnlich und brachte etwas Geld beiseite, bis Leute zu nörgeln begannen, seine Übersetzungen seien zu „frei“, wofür Riley seiner Meinung nach nicht verantwortlich zu machen war, da er doch kein Wort Chinesisch konnte und das Dolmetschen nur begonnen hatte, um rechtschaffen seinen Unterhalt zu verdienen. Aufgrund feindlicher Machenschaften wurde er seines Postens als offizieller Dolmetscher enthoben und durch einen Mann ersetzt, der mit dem Chinesischen vertraut war, jedoch über keinerlei Englischkenntnisse verfügte. Und Riley erzählte, wie er eine Zeitung herausgab dort oben in der Gegend, die jetzt Alaska ist, damals aber nur ein Eisberg war, mit einer Bevölkerung von Bären, Walrössern, Indianern und anderem Getier; und wie der Eisberg schließlich ins Treiben geriet und ihm all seine zahlenden Abonnenten entriß; und sowie das Gemeinwesen aus dem Geltungsbereich der russischen Rechtsprechung hinausgetrieben war, erhoben sich die Menschen, pfiffen auf ihren Untertaneneid und hißten die englische Fahne, um sich ranzuschmeißen und englische Kolonie zu werden, während sie an den britischen Besitzungen entlangsegelten; aber eine Landbrise und eine krumme Strömung trugen sie hinfort, und sie hißten das Sternenbanner und steuerten auf Kalifornien zu, verpaßten wiederum den Anschluß und schworen nun den Treueeid auf Mexiko, aber es war vergebens; die Anker wurden jedesmal aufs neue gelichtet, und weiter ging die Reise mit dem Nordost-Passat seitwärts auf die Sandwich-Inseln zu, woraufhin sie die Kannibalen-Flagge hißten und zu ihren Ehren ein gewaltiges Menschen-Grillfest abhielten, bei dem man übrigens feststellte, daß die liebsten Freunde auch die schmackhaftesten sind; und sowie sie vollends in die Tropen gerieten, wurde das Wetter so furchtbar heiß, daß der Eisberg zu schmelzen begann und so glitschig unter den Füßen wurde, daß es Damen fast unmöglich war, sich überhaupt noch auf den Beinen zu halten; und endlich, just als die Inseln in Sichtweite kamen, kippte der jämmerliche Überrest des einst majestätischen Eisbergs erst auf die eine, dann auf die andere Seite, tauchte sodann für immer unter und nahm das Nationalarchiv mit hinab – und nicht nur das Archiv und den Pöbel, sondern auch einige gute heiratsfähige Partien, die im Wert ebenso rasant gestiegen waren, wie sie in den Tropen an Zahl abgenommen hatten, und die Riley für dreißig Cent das Pfund verkaufen und dabei reich werden hätte können, wenn er die Provinz nur zehn Stunden länger über Wasser gehalten und sie sicher in den Hafen gebracht hätte.

Riley ist sehr methodisch, unermüdlich entgegenkommend, übersieht nie etwas, das beachtet werden muß; er ist ein guter Sohn, ein treuer Freund und ein allzeit verläßlicher Feind. Um jemandem einen Gefallen zu tun, schreckt er vor nichts zurück und hat daher stets alle Hände voll zu tun für die Hilflosen und die Faulen. Zudem kann er beinahe alles. Er ist ein Mann, dessen angeborene Güte eine sprudelnde Quelle ist, die nie versiegt. Immerzu steht er bereit, zu helfen, wo Hilfe benötigt wird – und nicht bloß mit seinem Geld, denn solche Wohltätigkeit ist billig und ordinär, sondern mit Hand und Hirn und unter großen Zeitopfern und bis zur Erschöpfung aller Glieder. Diese Sorte Mensch ist rar.

Riley besitzt einen zündenden Witz, Begabung und Treffsicherheit im Umgang mit Zitaten, und selbst wenn er einen ganz besonders scharfen Scherz losläßt, bleibt seine Miene so feierlich und ungetrübt wie die Rückseite eines Grabsteins. Eines Nachts erlitt im Haus nebenan eine Negerin tödliche Verbrennungen, und Riley meinte, unsere Gastwirtin werde beim Frühstück sicherlich niederschmetternd gestimmt sein, da sie einen Hang zu morbider Sentimentalität habe und derartige Gelegenheiten nicht ungenützt verstreichen lassen könne; und daher täten wir gut daran, sie reden zu lassen und nichts zu erwidern – dies sei der einzige Weg, Tränen in der Bratensoße zu vermeiden. Riley sagte, es habe noch nie eine Beerdigung in der Nachbarschaft gegeben, nach der die Bratensoße nicht eine Woche lang wäßrig gewesen wäre.

Und tatsächlich lag die Wirtin beim Frühstück in den tiefsten Sümpfen des Grams – mit gänzlich gebrochenem Herzen. Was sie auch betrachtete, es erinnerte sie an die arme alte Negerin: Die Buchweizenküchlein rührten sie zu Tränen, der Kaffee rief ein Seufzen hervor, und als das Beefsteak aufgetragen wurde, stieß sie ein Wehklagen aus, das uns die Haare zu Berge stehen ließ. Als sie nun anhub, von der Verblichenen zu sprechen, erzeugte sie einen stetigen Sprühregen, bis wir beide endlich vollständig durchnäßt waren. Sodann holte sie tief Luft und sagte mit einer Unmenge von Schluchzern:

„Ah, der Gedanke, allein der Gedanke! – die arme alte treue Seele. Denn sie war so treu. Ob Sie es glauben oder nicht, an Weihnachten wären es siebenundzwanzig Jahre geworden, daß sie in jenem selbigen Hause jener selbigen Familie diente, und nie ein verdrießliches Wort, nie eine Unbotmäßigkeit! Und, oh, sich vorzustellen, daß sie ein solches Ende finden würde! – sitzt da am rotglühenden Ofen um drei Uhr morgens und will schlafen gehen und fällt drauf und wird förmlich geröstet! Nicht bloß ein bißchen angebrutzelt, sondern buchstäblich durchgebraten! Die arme treue Seele, wie sie gesotten wurde! Ich bin nur eine arme Frau, aber selbst wenn ich dafür knausern muß: Ich werde einen Stein auf dem Grab dieser einsamen Dulderin aufstellen – und, Mr. Riley, wenn Sie die Güte hätten, einen kleinen Grabspruch dafür zu ersinnen, der irgendwie die grausige Weise beschriebe, in der sie –“

„Lassen Sie draufschreiben: Gehorsame und treue Dienerin, unserer Erinnerung eingebrannt “, sagte Riley, ohne die Spur eines Lächelns.

Erschienen in: The Galaxy, November 1870

Übersetzung: Michael Sailer