ausgehen und rumstehen
: Kinderpaläste kommen unvermutet: in der Paris-Bar, im Zentral-Berlin und im neuen WMF

Freitag: Ist ein Anfangssatz wie „Mein Bruder und seine reizende Freundin feierten die Rückkehr von ihrem Thailand-Trip mit einem Glas Schampus in der Paris-Bar“ zu dick aufgetragen? Also gut, geben wir der Wahrheit die Ehre: Mein Bruder und seine reizende Freundin feierten die Rückkehr von ihrem Thailand-Trip mit einem Glas Schampus in der Paris-Bar. Deshalb war auch ich in jener Gaststätte, die nur im Westen Berlins denkbar ist, weil nur hier die Mischung aus mondänem Wohlleben und aufgesetzter Dissidenz gedeiht, die ich beim besten Willen nicht besser auf den Punkt bringen kann als der Mann, der plötzlich reinkam und rief: „Gehört jemandem von euch der Porsche vor der Tür? Die Bullen schreiben auf.“

Aus Thailand gab es viel zu berichten, unter anderem, dass das dortige Schriftzeichen für Gebärmutter übersetzt „Kinderpalast“ bedeutet. Ich war begeistert und wollte lieber nicht wissen, ob die beiden das Zeichen auf einer Speisekarte entdeckt hatten. Wir nutzten den Kellnerwechsel zum Aufbruch. Mein Bruder wollte nach dem langen, beschwerlichen Flug verständlicherweise erst mal Fußball spielen.

Samstag: Thomas Meinecke legt im Zentral Berlin auf. Paris-Bar mal minus eins! Wer cool sein will, muss leiden! Avantgarde heißt Entbehrung! Etwa das will uns der karge Beton des Zentral Berlin sagen. „Theater zu Parkhäusern!“ skandierte Meinecke einst so mitreißend wie berechtigt. Aber das hat er jetzt davon: Die parkhausartige Raumakustik lässt von seinem exquisiten DJ-Set nur Frequenzen in der Mitte übrig. Dass man sich trotz frostiger Innenarchitektur und schlechtem Klang im Zentral wohl fühlt, liegt – vom guten Programm mal abgesehen – an den beiden goldigen Iren, die den Laden schmeißen, und die mit jedem Bier ein Glas Milch der Menschenliebe gratis zapfen. Trotzdem wollen viele jetzt weiter, ins Land, wo Höhen und Bässe fließen. Das soll das WMF sein. Das neue WMF!

Durch ein Tor in der Littenstraße treten wir ein. „Kinderpalast“ schießt es mir ungefragt durch den Kopf. Im Innern erwartet uns bestialisch organisierte Bewusstseinserweiterung. Der ganze Club besteht aus einer Serie identischer Räume. Wenn man vom einen in den anderen gleitet, glaubt man eine hauchdünne Membran zart platzen zu hören. Schaut man durch die endlosen Fluchten, wähnt man sich im Kabinett. „Das Selbstähnliche ist dem Psychedelischen wesentlich“, denke ich. „Egal ob Spiegelbild-Loop, Apfelmännchen, Déjà-vu oder wimmelnde Würmer, alles läuft aufs Gleiche raus: Selbstähnlichkeit. Natürlich ist das kein origineller Gedanke. Ich glaube, ich hab das irgendwo schon mal genauso gelesen. Und davor auch schon. Und so weiter. Aber darum geht’s ja. Genau darum geht’s.“

Aus meinen Gedanken reißt mich Jason Johnson, mein schärfster Konkurrent in Sachen Ausgeh-Journalismus. Man sagt, er habe den feinsten Riecher der Stadt. Er hat auch schon eine umfangreiche Mängelliste vom neuen Club angelegt. Zahlreiche Codeverstöße und schlecht verlegte Kabel sind aufgefallen. Insbesondere die Projektion bedeutungsloser Wörter auf eine der Wände erregt große Wut. Eine unglaubliche Grobheit der Empfindung verschaffe sich hier plärrend Ausdruck. Eine seelenlose Kleinkunst, wie sie nur dem stumpfen deutschen Geist entspringen könne oder allenfalls noch – und hier pausiert Johnson bedeutsam – dem türkischen. Plötzlich weiß ich, dass ich meinem Kontrahenten für heute genug abgelauscht habe. Ich kann gehen.

PS: Nichts, aber wirklich nichts ist so schön wie die Karl-Marx-Allee an einem kalten klaren Morgen. Leider lag sie diesmal nicht auf meinem Weg. Es war trotzdem schön. JENS FRIEBE