Heuchelei auf hohem Ross

Während in England die Empörung über den Rassismus der Zuschauer beim Länderspiel in Spanien weiter tobt, warnen andere Kommentatoren vor zu viel Scheinheiligkeit

BERLIN taz ■ Irgendwann war es selbst der sonst nicht gerade zimperlichen Sun zu viel. „Der englische Fußballverband wendet sich gegen Rassismus, das ist lobenswert“, schrieb das Boulevardblatt, „die Sache wäre aber wesentlich glaubwürdiger, wenn er das eigene Haus in Ordnung hätte.“ Gemeint waren allerdings nicht bestimmte Vorfälle und Zustände im englischen Fußball, sondern die Nationalspieler, die in Madrid letzten Mittwoch eine Art antirassistischen Rachefeldzug gegen Spaniens Team geführt hatten. Es war der Höhepunkt einer ebenso fatalen wie bizarren Serie von zwei „Freundschaftsspielen“, die Englands U 21 und die Mannschaft von Sven-Göran Eriksson in Spanien absolviert hatten. Auf den Rängen tausende von spanischen Zuschauern, welche die schwarzen englischen Spieler mit Affengebrüll reizten, auf dem Rasen des Bernabeu-Stadions zunehmend frustrierte Kicker, die der rassistischen Hetze und der fußballerischen Überlegenheit des Gegners damit begegneten, nach allem zu treten, was sich bewegte. Ashley Cole schubste sogar den spanischen Coach Luis Aragonés.

Mit dem hatte die leidige Geschichte, die inzwischen immer wildere Blüten treibt, angefangen. Einige Wochen zuvor war Aragonés durch ein in der Nähe befindliches Mikrofon dabei ertappt worden, wie er im Training zu José Reyes, der bei Arsenal in London spielt, sagte: „Zeig dem beschissenen Schwarzen, dass du besser bist.“ Gemeint war Arsenals Franzose Thierry Henry. Aragonés hielt es nicht einmal für nötig, sich zu entschuldigen, er habe ja bloß Reyes motivieren wollen, und Spaniens Verband, derzeit mitten in einer Führungskrise, unternahm skandalöserweise nichts gegen den Coach. Grund genug für die englischen Medien, im Vorfeld der Länderspiele in Spanien eine jener Kampagnen zu starten, die sie so sehr lieben.

Englische Journalisten waren es zum Beispiel, die vor dem EM-Finale hartnäckig die vermeintliche Kumpanei zwischen Schiedsrichter Merk und Griechenlands Trainer Rehhagel beschworen hatten, so lange, bis sogar die nüchterne portugiesische Presse daran glaubte und das Publikum entsprechend anstachelte. Diesmal ließen die Pressevertreter aus England keine Gelegenheit aus, die Spanier als üble Rassisten zu geißeln und Aragonés in jeder Pressekonferenz mit dem Thema zu konfrontieren. Der Trainer war verblendet genug, noch Öl ins Feuer zu gießen, indem er sagte, er kenne Rassismus und wisse über Englands Kolonien Bescheid: „Da wurden die Leute wie Wölfe gejagt.“ Eine historisch korrekte Einschätzung, die allerdings wenig geeignet war, die Wogen zu glätten.

Inzwischen hatte sich die Kunde von der plötzlichen britischen Empfindsamkeit in Sachen Xenophobie natürlich auch in Spanien verbreitet, und es konnte kaum verwundern, dass etliche Zuschauer die Erkenntnis gewannen, der beste Weg, die Briten zu ärgern, sei es, ihren Vorurteilen mit rassistischen Beschimpfungen zu entsprechen. Diese sind in Spaniens Fußball zwar keineswegs unbekannt, doch in diesem Ausmaß waren sie ungewöhnlich. David Beckham sagt, er lebe nun über ein Jahr in Spanien, so etwas habe er aber noch nicht erlebt.

Die europaweite Empörung über die Zuschauer im Bernabeu hat nach anfänglichen Verharmlosungsversuchen inzwischen auch in Spanien Konsequenzen. Aragonés, der es nach dem Spiel ablehnte, sich noch einmal zu dem Thema zu äußern, was in England prompt als Verweigerung einer Distanzierung interpretiert wird, muss sich vor der Anti-Gewalt-Kommission des spanischen Innenministeriums verantworten. Sein Rauswurf als Nationaltrainer ist nicht unwahrscheinlich. Spaniens Verband hat sich inzwischen offiziell entschuldigt.

Gleichzeitig wächst, nachdem in England zunächst sämtliche Institutionen und Politiker von Blair bis zur „Kick-it-out“-Kampagne unisono ihrer Empörung Ausdruck verliehen hatten, jedoch auch auf der Insel das Unbehagen über die Scheinheiligkeit, mit der Spanien an den Pranger gestellt wird. Schließlich wurden besagte Affenlaute in England erfunden und in den 80er-Jahren sogar gegen eigene Nationalspieler wie Liverpools John Barnes gerichtet. Durch Kampagnen von Verband und Klubs oder Fan-Organisationen wie „Kick it out“, aber auch dadurch, dass irgendwann jedes Team schwarze Spieler hatte, konnte der Rassismus in den Stadien stark reduziert werden. Sich aber gleich aufs hohe Ross zu schwingen und als Lehrmeister der Welt aufzuspielen, wie es englische Journalisten, Politiker und Funktionäre jetzt taten, stößt manchem übel auf, zumal die eigenen Fans wahrlich keine Waisenknaben sind, wie sie betrunken und pöbelnd auch in Madrid unter Beweis stellten.

Dass Rassismus auch in englischen Stadien noch existiert, zeigte sich am Sonntag in Blackpool, wo Birminghams Dwight Yorke exakt auf dieselbe Art beschimpft wurde wie Ashley Cole in Madrid. „Das ist Heuchelei“, kommentierte John Barnes gegenüber dem Observer die aktuelle antispanische Stimmung, „wir sollten nicht glauben, dass wir besser sind.“ Er verweist vor allem auf die geringe Zahl von Schwarzen in Trainerjobs und Führungspositionen im Fußball. „Die Mittwochsgeschichte ist natürlich viel sexier, als über die Unterrepräsentation von ethnischen Minderheiten zu reden“, pflichtet ein Sprecher von „Kick it out“ dem Ex-Nationalspieler bei. In den meisten Medien werden jedoch weiter Konsequenzen gegen Spaniens Fußball gefordert, bis zum Ausschluss von Länderspielen.

Inzwischen hat sich auch Fifa-Chef Sepp Blatter zu Wort gemeldet. Er würde es unterstützen, wenn Teams in ähnlicher Situation einfach das Spielfeld verlassen. Eine möglicherweise sinnvolle Maßnahme, wenn das Problem tatsächlich geballt auftritt, so wie in Holland, wo der Schiedsrichter in derartigen Fällen die Partie abbrechen kann. Spanien allerdings war ein sehr spezieller Fall. Die fahrlässige Instrumentalisierung des isolierten Ausrasters eines Fußballtrainers stellte ein Spiel mit dem Feuer dar, das nicht zur Reduzierung rassistischer Beleidigungen führen wird, sondern zu deren Zunahme – zumindest wenn englische Teams auf dem Platz stehen. Blatters neue Doktrin könnte schon am Mittwoch greifen, wenn Arsenal in der Champions League in Eindhoven antritt. Das dort übliche Affengebrüll gegen Thierry Henry wird diesmal noch lauter sein.

MATTI LIESKE