bernhard pötter über KINDER
: In eisigen Höhen

Auf den Mount Everest oder aufs Bücherregal kann jeder klettern. Die Kunst ist, wieder lebend herunterzukommen

Baby Stan spannt die Muskeln wie ein bulgarischer Gewichtheber. Er sitzt auf allen Vieren und arbeitet sich dann langsam mit den Händen am Bücherregal nach oben. Den Körper gespannt, das Gesicht verkniffen, ächzt und stöhnt er. Dann drücken seine Beine dieses unglaubliche Gewicht nach oben. Stan schwankt. Stan wackelt. Aber er steht. Krallt sich am Regal fest, blickt stolz in die Gegend und lässt triumphierend die lange angehaltene Luft aus seinen Lungen entweichen: „Öööööööhhh!“

Direkt vor Stans Augen steht Jon Krakauers Bergsteigerdrama „Into thin Air“. Das Buch beschreibt eine Expedition zum Mount Everest, die mit vielen Toten endet – weil aus dem Extremsport Bergsteigen inzwischen ein kommerzielles Serviceunternehmen für zahlungskräftige Jedermanns geworden ist. Eine Lehre aus „Into thin Air“: Den Mount Everest besteigen kann jeder. Die Kunst ist es, wieder lebend runterzukommen.

Das merkt jetzt auch Baby Stan. Eine Sache ist es, sich am Regal hochzuziehen und den starken Max zu markieren. Eine andere, wieder heil auf allen Vieren zu landen. Nach einer Weile, in der er den Gipfelrausch genießt, beginnt Stan nach einem Abstieg zu schielen. Er tastet mit dem Fuß, versucht, einen Halt für seine Hand zu finden, zieht den Arm wieder zurück, weil es ihm unheimlich wird. Das Triumphröhren geht in kleine Meckerlaute über. Wie komme ich hier wieder unter? Warum hilft mir keiner? Warum habe ich nicht früher daran gedacht?

„Ein typischer Mann“, sagt Anna. „Erst mal mit Vollgas in die Sackgasse rasen. Und dann nicht weiter wissen und nach Mama heulen.“ Harte Worte einer dreifachen Mutter, die es tief in ihrem großen Herzen ein bisschen genießt, wenn ihre Kinder nach Mama heulen. Und ihr Mann manchmal auch.

Stan hat sich inzwischen vom Sessel zum Sofa vorgetastet. Wenn es schon keinen Weg zurück gibt, kann man ja mal einen Querstieg probieren.

Natürlich hat Anna Recht. Diese Welt sähe besser aus, wenn wir alle die Lehre der Bergsteiger beherzigen würden. Wer bei Beginn eines Abenteuers nicht weiß, wie er aus der Sache wieder rauskommt, hängt bald kopfüber im Seil – wenn er Glück hat. Beim Irakkrieg fehlten den USA nicht nur überzeugende Gründe für den Krieg, sondern vor allem eine „Exit Strategy“. Jetzt stecken sie bis zum Hals im Sand. Als wir vor 50 Jahren mit dem Bau von Atomkraftwerken begonnen haben, wusste niemand, wohin mit dem Müll. Heute haben wir auch nicht mehr im Kopf, dafür aber den strahlenden Abfall am Hals. Und mit der Einführung der Gentechnik auf dem Acker werden ganze Kontinente zu gigantischen Freilandlabors – zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Life-Science-Berater.

So weit, so vernünftig. Aber man kann auch das Gegenteil behaupten: Ohne trial and error kämen wir wahrscheinlich überhaupt nicht weiter. Wenn wir nur Dinge täten, deren Ausgang wir kennen, säßen wir immer noch in der afrikanischen Savanne auf dem Baum und kratzten uns im Schritt. Der Fortschritt fordert eben Opfer! No risk, no fun!

Das sieht Baby Stan genauso. Am Ende des Sofas versucht er sich zum Sessel hinüberzuhangeln. Eine haarige Sache. Und er ist auch schon ziemlich lange auf den Beinen. Er rutscht aus, ehe wir ihn packen können. Und fällt wie ein gefällter Baum. Allerdings schreien gefällte Bäume nicht so laut.

Stan brüllt. Aber das geht vorbei. Schnell lässt er sich trösten. Der harte Aufschlag auf den Boden der Tatsachen hat keine Spuren hinterlassen. Die Rückentwicklung zum Vierfüßer stört ihn nicht. Sein Entdeckerdrang ist ungebrochen.

Er krabbelt zurück zum Bücherregal und versorgt sich mit wegweisender Lektüre. Erst greift er sich Hermann Hesse: „Mit dem Erstaunen fängt es an.“ Dann kaut er, zufrieden mit der Erweiterung seines Aktionsradius um die oberen Sphären, auf Michel Houellebecqs „Ausweitung der Kampfzone“. Schließlich findet er, was er gesucht hat. Mit Schwung reißt er Frank McCourt aus dem Regal: „Die Asche meiner Mutter“. Anna guckt ein bisschen komisch.

Fotohinweis: bernhard pötter KINDER Fragen zum Himalaya? kolumne@taz.de MORGEN: B. Bollwahn über ROTKÄPPCHEN