Massenproteste nach Präsidentenwahl

In der ukrainischen Hauptstadt Kiew demonstrieren rund 500.000 Menschen gegen das Ergebnis der Stichwahl. Die soll offiziell Premier Wiktor Janukowitsch gewonnen haben. Dessen Widersacher, Wiktor Juschtschenko, behauptet das Gegenteil

AUS KIEW HEIKE HOLDINGHAUSEN

Tausende von Demonstranten haben gestern in Kiew gegen das Wahlergebnis bei den ukranischen Präsidentschaftswahlen protestiert. Am Morgen hatten sich etwa 50.000 Menschen versammelt und wütend den Namen des Oppositionskandidaten Wiktor Juschtschenko skandiert, am Nachmittag waren es schätzungsweise 500.000. „Juschtschenko, Juschtschenko“, riefen sie, und „Kutschma he“ („Kutschma weg“). Mit Schals, Fahnen und Bändern in Orange – der Farbe der Opposition – zogen sie über den Kreschtschatik, den Prachtboulevard der Hauptstadt.

„Wir wollen den Präsidenten, den wir gewählt haben“, rief die Ärztin Oxana, „Juschtschenko hat gewonnen, nicht dieser Bandit Janukowitsch.“ Der 25-jährige Musiker Andrej sagte, er demonstriere, damit „auch in der Ukraine endlich die Menschenrechte eingehalten würden.“

Die Zentrale Wahlkommission hatte am Montagmittag nach Auszählung von 99 Prozent der Stimmen Premier Wiktor Janukowitsch als Sieger der Stichwahl bekannt gegeben: Für ihn hätten 49,42 Prozent gestimmt, für seinen Herausforderer Wiktor Juschtschenko 46,69 Prozent. Die Wahlbeteiligung sei mit 78 Prozent höher gewesen als bei der ersten Runde am 31. Oktober. Nach einer Prognose des Rasumkow-Zentrums, eines unabhängigen Instituts für Sozialforschung, hatte Juschtschenko am Wahltag noch mit 54 Prozent geführt, Janukowitsch nur 43 Prozent der Stimmen erhalten.

Während der Wahl war es zu zahlreichen Zwischenfällen gekommen. Im zentralukrainischen Gebiet Tscherkassi wurde ein Polizist, der ein Wahllokal bewachte, mit Kopfverletzungen tot aufgefunden, die ihm offenbar Angreifer zugefügt hatten. In der nördlichen Region Sumi demolierten 40 Personen ein Wahllokal, meldete die russische Nachrichtenagentur Interfax.

Internationale Beobachter sprechen von massiven Wahlmanipulationen. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) bemängelte mehr ernste Verstöße gegen die Regeln freier und demokratischer Wahlen als beim ersten Wahlgang. Schon diesen hatte sie als nicht demokratisch bezeichnet. Wählerlisten seien gefälscht und Wahlbeobachtern des Oppositionskandidaten sei der Zutritt zu Wahllokalen verweigert worden. Hingegen seien in fast der Hälfte der Wahllokale illegal Polizisten und Beamte der Lokalverwaltung anwesend gewesen.

Auch der deutsche Außenminister Joschka Fischer kritisierte den Wahlverlauf. „Wir sind besorgt über die Vorwürfe von Wahlfälschung“, sagte Fischer gestern am Rande eines Treffens der EU-Außenminister. Für die Bundesregierung sei wichtig, dass mit dem Wahlergebnis „unverfälscht der Wille des ukrainischen Volkes umgesetzt wird“.

Auch die Wahlkampfteams der beiden Kandidaten meldeten Unregelmäßigkeiten. Der Oppositionskandidat Juschtschenko sagte am Montagmorgen, „die Wahl wird gefälscht, von der Wahlkommission kann man nicht die Wahrheit erfahren“. So habe die Kommission in einigen Wahlbezirken im Osten eine völlig unrealistische Wahlbeteiligung von 96 Prozent gemeldet. Diese Region ist die Hochburg des Ministerpräsidenten. Dessen Leiter des Wahlkampfstabes sagte im Fernsehen: „Das letzte Wort hat die Zentrale Wahlkommission. Wir werden das Ergebnis annehmen, wie immer es ausfällt.“ Janukowitschs Sprecher bezeichnete Wählernachfragen, die Juschtschenko von Beginn an in Führung sahen, als „falsch, unwissenschaftlich und sogar komisch“.

Der Oppositionskandidat Wiktor Juschtschenko beschwor seine Anhänger am Montag, die Wahl nicht anzuerkennen. Er rief sie auf, solange zu demonstrieren, bis die Regierung das eigentliche Ergebnis akzeptiere.

Wie die Lage sich in der Ukraine entwickelt, ist laut Beobachtern derzeit nicht absehbar. „Niemand kann sagen, wie lange die Opposition durchhält und die Regierung reagiert“, sagte Alexander Demianets vom Razumkow-Zentrum. Studenten, vor allem aus dem Westen des Landes, hatten sich gestern bereit gemacht, zu Protesten nach Kiew zu reisen. Ob es ein georgisches Szenario geben werde, sei nicht absehbar, sagte Demianets. In Georgien musste die Regierung der Provinz Adscharien nach wochenlangen Demonstrationen und Protesten zurücktreten und die Führung das Land verlassen.

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