Für eine Hand voll Muscheln

AUS CANGAS REINER WANDLER

Auf die Politik spricht man Muschelsammler Benito Costas Novas lieber nicht an. „Die betreiben nur Schönfärberei“, lautet sein zorniges Urteil, wenn er nach den Berichten der Regionalregierung von Galicien gefragt wird. Denen zufolge ist das Meer vor der nordwestspanischen Küste zwei Jahre nach dem Unglück des Tankers „Prestige“ wieder so wie früher. „Alles Lüge“, sagt der 46-jährige, von Wind und Wetter gegerbte Mann und winkt ab.

Dabei sehen die Gewässer hier draußen an der Einfahrt zur Ría de Vigo, einem der fischreichsten Fjorde an Spaniens Atlantikküste, wirklich idyllisch aus. Das Wasser ist klar. Keine Ölklumpen treiben in den Fluten, keine Teerflecken verunstalten die Felsen. Überall schaukeln kleine Fischerboote in der Brandung. Die Besatzung sammelt verschiedene Muschelarten und Seeigel. Nichts deutet darauf hin, dass sich hier vor zwei Jahren die größte Umweltkatastrophe ereignet hat, die Spanien je gesehen hat.

Das Tankschiff „Prestige“ war in Seenot geraten und am 19. November 2004 nach einer sechstägigen Irrfahrt 240 Kilometer vor der Küste auseinander gebrochen und in den Fluten versunken. 40.000 Tonnen stark schwefelhaltiges Schweröl gelangten ins Meer. Von Nordportugal bis Südfrankreich wurde die Küste verseucht.

Es ist wie ein Wunder: Die toxischen Werte der gesammelten Muscheln liegen heute wieder weit unter den Grenzwerten des Fischereiministeriums. Doch Benito interessieren die Statistiken wenig. Für ihn ist nichts, wie es früher einmal war. „Wir ernten viel weniger als in normalen Jahren“, beschwert sich der Mann, der seit 24 Jahren auf die Suche nach Entenmuscheln hinausfährt.

Breitbeinig steht er im Boot. Zusammen mit einer Fischerin sortiert er geschickt die Ernte, die von zwei Männern in Neoprenanzügen mit einer langen Spachtelstange von den Felsen gelöst wurde. „Die hier sind von bester Qualität“, sagt Benito und zeigt ein daumengroßes, schwarz-orangefarbenes Gewächs, das am oberen Ende einen entenähnlichen, weißen Schnabel aufweist. Gekocht gilt das Fleisch der Percebe – wie die Entenmuschel hier heißt – als Delikatesse.

Kurz vor der Ebbe kommen die Percebeiros, die Sammler der Entenmuscheln, heraus. Bei gutem Wetter und stiller See ist die Arbeit ungefährlich. Bei hohem Wellengang kann jeder Fehltritt tödlich sein. Wer in die Brandung fällt, hat kaum eine Chance. Die Wellen drücken ihn mit voller Gewalt gegen die Felsen. „Früher haben wir wenigstens gut verdient, aber jetzt …“ Benito schüttelt den Kopf.

Früher sieben Kilo, heute vier

Es wächst immer weniger Percebe an den Felsen. Die 67 Entenmuschelsammler aus Cangas, deren Sprecher Benito Costas Novas ist, sammelten vor dem Unglück sieben Kilogramm am Tag. „Jetzt müssen wir uns auf vier Kilo beschränken, wenn wir nicht überernten wollen“, berichtet Benito.

Schuld an der schlechten Ernte ist für Benito und seine Kollegen o chapapote – das Schweröl, das aus den Tanks der Prestige entwichen ist. An manchen Stellen sind die Felsen noch immer verdreckt. Andernorts wurden sie mit Dampfstrahlern gereinigt. Doch auch hier wächst nichts. Die Steine sind zu sauber. Die Muschellarven haften nicht.

Auch die Navalleiros, die Sammler von Messermuscheln, haben Angst um ihre Zukunft. Ihre Boote ankern eine halbe Seemeile weiter vor den unter Naturschutz stehenden Atlantikinseln am Eingang der Ría. „Wir können längst nicht überall arbeiten“, erklärt Fernando Broullón. Manche Strandabschnitte und die angrenzenden Gewässer sind gesperrt. Denn unter dem Sand liegt noch immer das Schweröl. Der 40-jährige, hagere Mann hat einen harten Job. Er taucht ohne Sauerstoff in bis zu 10 Meter Tiefe. Dort gräbt er mit bloßen Händen die bis zu 14 Zentimeter langen Muscheln aus. Über eine Minute dauert jeder Tauchgang. Bis zu vier Stunden braucht ein Navalleiro, um sein Tageskontingent von 15 Kilo zu sammeln.

„Noch haben wir keinen Rückgang der Erträge zu verzeichnen“, sagt Fernando. Dennoch fürchtet er um sein Geschäft. Denn die Messermuschel wächst langsamer als der Percebe. Die Schwierigkeiten könnten also später eintreten. Ernsthafte Studien, die Fernandos Bedenken belegen oder entkräften könnten, gibt es bisher noch keine.

In Cangas arbeitet seit Anfang November die junge Biologin Berta Barreiro. Sie kommt nicht im offiziellen Auftrag, sie hat ein Stipendium einer privaten Stiftung. Die 34-jährige, blonde Frau aus einem Nachbardorf von Cangas fährt fast täglich mit den Muschelsammlern hinaus aufs Meer. Heute ist sie etwas nervös. Sie möchte an Land springen, so wie es die Percebeiros tun. Mit Gummistiefeln an den Füßen steht sie am Bug des Bootes. Langsam nähern sich die Felsen. Berta nimmt allen Mut zusammen. Ein Satz, sie ist drüben und lacht erleichtert. Die vom Meer gezeichneten Männer schauen anerkennend hinterher.

„Ich werde bestimmte Zonen daraufhin untersuchen, wie schnell sich die Bestände erneuern“, erzählt Berta, zurück an Bord. Alle Indizien lassen nichts Gutes erwarten. Neben den Percebeiros und den Messermuscheltauchern beschweren sich auch die Züchter von Miesmuscheln. Die Samen – winzig kleiner Muscheln, die an den Felsen gesammelt und dann auf die langen Seile in den Zuchtanlagen aufgepflanzt werden – sterben immer öfter einfach ab. Etwas, was es früher nie gab. Die Muscheln, die überleben, werden nur sehr langsam groß, dick werden sie gar nicht mehr. Außerdem nehmen die toxischen Algen zu, die wiederum die Muscheln ungenießbar machen.

Darum treten auch bei immer mehr Fischen Vergiftungserscheinungen auf. Wen wundert es da, dass die Biologin Berta auch von den Fischern nur Klagen hört. Die Bestände nehmen ab. „Vielleicht würde ein zeitlich befristeter Fangstopp helfen“, meint Berta. Viele Fischereigenossenschaften fordern das Gleiche. Doch weder die konservative Regionalregierung in Santiago de Compostela noch die sozialistische Exekutive in Madrid hört solche Vorschläge gerne. Denn ein Fangstopp käme teuer. In den Monaten nach dem Unglück wurden den Fischern und Muschelsammlern am Tag 40 Euro Entschädigung ausgezahlt. Eine weitere Ruhepause möchte niemand finanzieren.

Nicht zu jedem Preis

„Uns bleibt nichts anderes übrig, als die geschrumpften Vorkommen besser zu verwalten“, erklärt Benito am Nachmittag in der Lonxa – der Versteigerungshalle am Hafen von Cangas. Er hat sich geduscht und umgezogen. Die Entenmuscheln vom Morgen liegen in Kisten sortiert auf einem langen Alutisch. Jetzt warten Benito und seine Kollegen auf die Verkäufer. „Wenn der Preis heute gut ist, fahren wir morgen wieder raus. Ist er schlecht, setzen wir aus.“ Keiner ist gewillt, das Wenige, was bleibt, zu jedem beliebigen Preis wegzugeben.

An der Wand hinter den Tischen hängt die schwarz-blaue Fahne mit der Aufschrift „Nunca maís!“ – „Nie wieder!“ –, die vor zwei Jahren weit über Galicien hinaus Balkone und Pkws schmückte und Demonstrationen mit hunderttausenden von Teilnehmern anführte. Darauf angesprochen, reden in der Lonxa alle durcheinander. Nicht nur Benito, Fernando oder Berta, alle hier haben ihre Geschichten zu erzählen von damals, als die schwarze Flut auf die Ría de Vigo zuschwappte.

Die junge Biologin knüpfte aus engen Netzen und Bojen improvisierte Ölsperren, kratze Öl von den Felsen, schippte Öl aus dem Sand. Die offiziellen Stellen versagten. Spezialmaterial blieb tagelang aus. Auch Benito und Fernando erinnern sich noch gut, wie die ganze Flotte der Gegend in der Einfahrt der Ría lag. Tagelang schöpften die Männer Tonnen von Öl aus dem Wasser – mit riesigen, selbst gebauten Kellen oder ganz einfach mit den Händen. Bei hohem Seegang, wie er damals herrschte, war das ein sehr gefährliches Unterfangen.

Doch an die Gefahr dachte keiner. Alle hatten nur einen Gedanken: „Das Meer ist unsere Existenz.“ 30.000 Einwohner zählt Cangas. 800 Familien leben vom Fang und Sammeln an der Küste, 2.000 vom Hochseefischfang. Jeder Arbeitsplatz auf dem Meer schafft fünf an Land.

Die Menschen aus der Ría hatten mit ihrem verzweifelten Kampf teilweise Erfolg. Es gelang ihnen, die schwarze Flut zu stoppen. Nur ganz kleine Klumpen gelangten in den Fjord. Der Rest blieb draußen – verseuchte allerdings weite Abschnitte der Küsten der Atlantikinseln. Bis heute sind dort Spezialisten im Einsatz, um mit Bakterienkulturen das Öl an schwer zugänglichen Steilküsten zu bekämpfen. Jetzt, zwei Jahre später, scheint es ein Pyrrhussieg gewesen zu sein. Denn o chapapote unterbricht auch dort, wo das Öl nie hin gelangte, die Nahrungskette und damit die Reproduktion der Muscheln.

Es wird unruhig in der Auktionshalle von Cangas. Je weiter die Zeit voranschreitet, umso nervöser wird auch Benito. Tintenfisch, Jakobsmuscheln, Venusmuscheln, Messermuscheln und Seeigel wurden bereits versteigert. Der Preis war nicht überragend, aber auch nicht schlecht. Jetzt werden die Entenmuscheln aufgerufen. Auf der Anzeigetafel erscheint das Startangebot: 120 Euro pro Kilo. Ein schöner Preis, doch niemand kauft.

Unaufhörlich zählt die Anzeigetafel abwärts. 90, 89, 88 … Benitos Gesicht wirkt immer angespannter. 75, 74, 73 …, erst bei 55 Euro drückt einer der Aufkäufer auf die Stopptaste seiner Fernbedienung und kauft 20 Kilogramm Percebe. „Eine Katastrophe, dieser Preis“, sagt Benito leise. Wenig später gehen die letzten Kisten gar für 28 Euro pro Kilo über den Tisch. „Morgen fahren wir nicht raus“, beschließt Benito trotzig. Keiner der anderen Entenmuschelsammler widerspricht ihm.