Buchstabiere „Slum“!

In keinem anderen Industrieland sind die Bildungschancen für Kinder so abhängig vom Elternhaus wie in Deutschland – bei gleichem IQ

VON CHRISTIAN FÜLLER

Sie können einem beinahe Leid tun. Kaum hatte die deutsche Schule bei der neuesten Pisa-Studie erneut miserable Zeugnisse erhalten, standen gestern die immer Gleichen am Pranger – die Kultusminister. Und mussten sich hanebüchene Vorwürfe gefallen lassen.

Jürgen Rüttgers (CDU), der Dauerwahlkämpfer, wollte prompt die Schulpolitik Nordrhein-Westfalens für den deutschen 17. Platz haftbar machen. Der Bundesverband der Industrie rief die Revolution aus: Jetzt müsse „das gesamte Bildungswesen erheblich anders strukturiert werden“. Und Guido Westerwelle (FDP) sagte, was er immer sagt: Die Kultusministerkonferenz muss weg!

Die Ausrede der gescholtenen Schulverantwortlichen klang so, als hätten sie sich sorgfältig abgesprochen. „Gemach“, riefen die Kultusminister, allen voran ihre Präsidentin Doris Ahnen (SPD). Ein so komplexes System wie Schule lasse sich kurzfristig nicht groß verändern.

Das stimmt. Die Ergebnisse der ersten Pisa-Malaise wurden Ende 2001 veröffentlicht. Damals landeten die getesteten 15-jährigen Schüler auf Platz 21. Knapp eineinhalb Jahre später, Mitte 2003, standen die Mitarbeiter der OECD schon wieder in 225 deutschen Schulen. So schnell kann aber kein Schüler schlauer werden.

Das ist es auch, was der Koordinator der OECD-Bildungsstudien, Andreas Schleicher, seit drei Jahren predigt. Fangt rechtzeitig mit dem Umbau an, sagte er jetzt der Zeitschrift Capital, „Schulen verändern sich sehr langsam“. Rund 20 Jahre, so weiß Schleicher aus internationalen Erfahrungen, braucht es, um ein Schulsystem von Grund auf zu modernisieren.

Dennoch müssen sich die Kultusminister einen Vorwurf gefallen lassen: Sie haben wenig gegen die beiden Hauptprobleme unternommen. Ausgerechnet die Kinder aus dem Land von Goethe können nur extrem schlecht lesen – 22 Prozent waren es diesmal, die den Sinn der ihnen vorgelegten Texte nicht erkannten. Und: Bei keinem der Pisa-Konkurrenten ist Schulerfolg so sehr vom sozialen Status der Eltern abhängig wie in Deutschland. Einfach gesagt: Das Akademikerkind hat hierzulande eine dreimal so hohe Chance, aufs Gymnasium zu kommen, wie das Kind eines Facharbeiters – bei gleichem IQ.

Dabei ist vor allem die deutsche Leseschwäche ein Mirakel für die Forscher. „Wir kennen die Gründe selbst noch nicht genau“, sagt der Grundschuldidaktiker Hans Brügelmann. Es ist ein Mix aus vielerlei Ursachen, warum Schüler die Pisa-Texte zwar entziffern können, aber kaum verstehen. So fehlt den deutschen Schülern offenbar noch die Testroutine anderer Länder. Sie brauchen ungewöhnlich lange, um die Texte und Fragen von Pisa zu erfassen.

Die Schule will Brügelmann dennoch nicht aus der Verantwortung entlassen. Ihr Problem ist, dass sie mit den extrem ungleichen Voraussetzungen der Schüler nach Schema F umgehe. Vielerorts müssen immer noch alle Schüler einer Grundschulklasse – im Prinzip – stets zur gleichen Zeit die gleichen Buchstaben lernen – „obwohl schon am Anfang eine Lerndifferenz von drei und mehr Jahren besteht“. Das heißt: Ein Teil der Abc-Schützen kann bereits lesen, ein anderer kennt noch keinen einzigen Buchstaben.

„Wir müssen den Unterricht öffnen“, rät Brügelmann, „damit auch unterschiedlichste Lernniveaus innerhalb einer Klasse damit umgehen können.“ Das bedeutet: Weniger Diktate – und mehr freies Schreiben. Weniger gemeinsames Wiederholen – und mehr Raum für selbstständiges Arbeiten. Besonders in der Sekundarstufe liegt der Spracherwerb im Argen. „Ab der 5. Klasse prüfen wir vornehmlich die Rechtschreibung der Schüler – aber wir helfen ihnen nicht mehr, sie zu entwickeln“, berichtet Brügelmann. Und kritisiert die Kultusminister. „In den Sekundarschulen, also da, wo die Pisa-Tests gemacht werden, haben die doch ganz wenig unternommen. Lesen wird formal, aber nicht in der Alltagspraxis geübt.“

Auch das zweite große Pisa-Problem, die soziale Spaltung, blieb seit 2003 praktisch unangetastet. In einer vertieften Auswertung der Pisa-Daten von 2000, die gerade erschienen ist, hat Gundel Schümer, Forscherin am Max-Planck-Institut, herausgefunden: Kindern bildungsferner Schichten werden doppelt benachteiligt. Ihnen fehlt die Förderung von zu Hause – und sie werden dann noch durch die dreigliedrige Schule in einer Art Lernslum konzentriert. Die Folge: „Diese Schüler haben um bis zu 39 Punkte schlechtere Leistungen, als aufgrund ihrer individuellen Voraussetzungen zu erwarten wäre.“ 39 Punkte, das ist etwa ein Lernjahr, das diese Schüler verlieren – nur weil sie in extrem schlechten Lernmilieus wie Hauptschulen kaserniert werden.