Der letzte Sozialpatriot der Union

Horst Seehofer kann das Gesundheitssystem einfach erklären. Hätte er das nur beim CSU-Parteitag getan

BERLIN taz ■ Horst Seehofer ist sehr hoch gewachsen, und seitdem er im Jahre 2002 von einer lebensgefährlichen Herzmuskelentzündung genesen ist, auch recht schlank. Für einen 55-Jährigen. Er hat einen ausgesprochen festen Händedruck und außerdem eine sehr tragende Stimme. Er redet manchmal etwas onkelhaft-altbacken. „Da mach ich ein dickes Fragezeichen“, ist so ein Satz.

Doch ein Irrtum wäre es, diese Erscheinung mit seiner Jahrzehnte währenden Bedeutung und ebenso großen Starrsinnigkeit in der Gesundheitspolitik kurzzuschließen und daraus zu folgern, er sei ein großer, alter, sturer Mann der schlichten und lauten Worte. Ein unempfindliches, trampelndes Reptil. So wollte bloß die CDU, dass er gesehen werde. Und auch der CSU-Chef Edmund Stoiber, seitdem er den Kompromiss mit der CDU-Chefin Angela Merkel zur Gesundheitspolitik geschlossen hat.

Das Besondere an Horst Seehofer ist vielmehr, dass es ihm gelingt, die Grundannahmen des Gesundheitssystems auch Anfängern zu erklären. „Kleine Einkommen, kleine Beiträge – hohe Einkommen, hohe Beiträge“: Wer jetzt den „Einkommensbezug“ der Krankenkassenbeiträge noch nicht verstanden hat, dem ist nicht mehr zu helfen.

Und es bedarf nur eines kleinen Gedankenschlenkers, um sich zu überlegen, ob man das in Ordnung findet – oder ob man lieber, wie die Union minus Seehofer jetzt, alle gleich viel für ihre Krankenversicherung bezahlen lassen will.

Seehofer hat sich solche Mühe gegeben, die Tücken und Fallen aus dem Kopfpauschalenmodell hervorzupulen, weil er wusste, dass nur seine Erklärungsfähigkeit ihn vor dem überwältigenden Wunsch in CDU wie CSU schützen würde, endlich eine Einigung zu finden – koste es, was es wolle. Aber ausgerechnet die wichtigste Gelegenheit, für das Soziale, also die Umverteilung in der Krankenversicherung zu kämpfen, hat er ausgelassen: Den CSU-Parteitag. Er hätte eigentlich wissen müssen, dass Stoiber ihn im selben Augenblick fallen lässt, da die Zustimmung im Parteivolk für den Vizechef nicht mehr unmittelbar messbar ist. Schließlich hatte Stoiber schon vor dem Parteitag angedeutet, dass jeder ersetzbar sei. Und der Einzelgänger Seehofer hat kaum echte Freunde.

Was für ein Fehler. Hat Horst Seehofer sich am Ende doch selbst überschätzt? Hat er gedacht, er würde in Abwesenheit so wirken wie in Anwesenheit? Seit 1980 hat es keine Gesundheitsreform ohne Seehofer gegeben. Denn egal, welche Regierung gerade an der Reihe war – Gesundheitsreformen wurden immer in großer Koalition verhandelt: der Schulterschluss der Politik gegen Versicherte, Kassen, Ärzte, Apotheker und Pharmaindustrie. Vielleicht wird man ja auch größenwahnsinnig, wenn man über 20 Jahre lang die Gesundheitsversorgung eines mittlerweile 82 Millionen zählendes Volkes lenkt. Hinzu kommt, dass aus dem eigenen Lager seit dem Abgang von Norbert Blüm niemand nachgewachsen ist, der die Geldströme und Interessenlagen so gut im Blick hat wie Horst Seehofer.

Doch genau das, was Seehofer früher unverzichtbar machte, hat ihn nun verzichtbar gemacht. Denn der Grund, warum die Union keine genuinen Sozialpolitiker mehr hervorbringt, ist, dass sie nicht mehr an die Effizienz und Gerechtigkeit der sozialen Sicherungssysteme deutscher Prägung glaubt. Soziales ist in CDU/CSU kein Profilierungsthema mehr, sondern ein Verliererthema. Mit Horst Seehofer tritt der letzte Sozialpatriot der Union von der Bundesbühne ab.

ULRIKE WINKELMANN