seehofer zurückgetreten
: Abschied von der alten Union

Für die Spitzenpolitiker der Union galt Horst Seehofer zuletzt nur noch als pathologischer Fall. Sein Verhalten „absurd“, der Rücktritt „konsequent“: Die Wortmeldungen des gestrigen Tages erweckten den Eindruck, als sei der Frontmann des CSU-Sozialflügels nicht mehr ganz dicht. Seehofer hat sich zwar zuletzt wie eine Diva geriert und dabei zusehends das Gespür für das politisch Machbare verloren. Doch ist es nicht Seehofer, der sich in den vergangenen Jahren veränderte; vielmehr sind CDU und CSU nicht mehr die Parteien, denen der Ingolstädter einst als Gesundheitsminister diente.

KOMMENTAR VON RALPH BOLLMANN

Das politische Spektrum der Union hat sich seit dem Ende der Kohl-Ära dramatisch verengt. Auf der Linken zeigt Seehofers Rücktritt erneut den Niedergang des Sozialflügels; Norbert Blüm wird nur noch ausgelacht, auch auf Heiner Geißler will niemand mehr hören. Aber auch auf der Rechten fehlen jene rustikalen Figuren, die das nationalkonservative Milieu bedienten – ob sie nun Manfred Kanther hießen oder Alfred Dregger, Heinrich Lummer oder auch Franz Josef Strauß. Die Extreme trafen sich im Glauben an den starken Staat. Von Konrad Adenauer bis zu Helmut Kohl war die CDU eine durch und durch patriarchalische Partei. Die Wähler, die ihre Stimme diesen politischen Übervätern schenkten, erhielten im Gegenzug Schutz vor äußerer Unbill und materieller Not.

Ein solches Denken ist der kühlen Taktikerin Angela Merkel ebenso fremd wie dem technokratischen Reformer Edmund Stoiber. In den sechs Jahren seit dem Machtverlust im Bund hat sich die Union erstaunlich schnell von einer konservativen in eine liberale Partei verwandelt – im doppelten Sinne des Wortes. Gesellschaftspolitisch wollen CDU und CSU die Homoehe so wenig rückgängig machen wie das Bekenntnis zur Einwanderung, das selbst die lauten Rufe nach einer größeren Integrationsbereitschaft nur unterstreichen. Auf ökonomischem Gebiet hat die Union den rheinischen Kapitalismus mit seinem menschlichen Antlitz durch die Entfesselung des Marktes ersetzt. Wie sich gezeigt hat, waren Stoibers Einwände hier rein taktischer Natur und nicht von Überzeugungen gespeist.

Freilich entspringt dieser Kurswechsel nicht bloß einer Laune des Führungspersonals. Es sind die Milieus des klassischen Konservativismus selbst, die sich aufgelöst haben. Deswegen ist der Abschied von Seehofer nur ein Symptom für den Abschied von der alten Union.