Endstation Abitur erreichen wenige

Der Bummelzug hat meistens Vorrang: Eine Testfahrt durch die Irr- und Umwege des deutschen Schulsystems

Die Karrieren deutscher Schüler gleichen einer Fahrt mit der Bahn. Schon beim Einstieg in den Bildungszug – der Einschulung – kommen einige zu spät und müssen auf den nächsten Zug. Den ersten Knotenpunkt erreicht die deutsche Bildungsbahn nach Ende der Grundschule. Gut Betuchte fahren von hier aus im ICE erster Klasse Richtung Abitur. Wer aus schlechten Verhältnissen kommt, dem bleiben oft nur die Bummelzüge. Umsteigen, das ist die Eigenart, ist nur in langsamere Züge möglich.

Nach der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 sollte sich das ändern, doch auch die zweite aus dem Jahr 2003 zeigt: Schüler aus bildungsfernen und sozial schwachen Familien haben nur geringe Chancen, auf eine höhere Schule zu kommen. Einmal in die Hauptschulen einsortiert, haben sie so gut wie keine Möglichkeit auf einen höheren Bildungsabschluss. Bewiesen haben dies Bildungswissenschaftler der Uni Duisburg-Essen in einer Studie. Danach macht den deutschen Schülern kaum einer etwas vor – beim Scheitern. Jeder dritte 15-Jährige wurde zurückgestellt, ist sitzen geblieben oder wurde an eine niedrigere Schule geschickt. Jeder Zehnte erreicht nicht einmal das kleinste Bildungsziel Hauptschulabschluss. „Für diese Leute ist es unmöglich einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu finden,“ sagt Klaus Klemm von der Uni Essen.

Dabei schafft die Auslese nach der Grundschule zunächst scheinbar leistungshomogene Einheiten in den weiterführenden Schulen. Das heißt, in den Klassen sind ähnlich leistungsstarke Schüler. Doch dieser Zustand ist nur von kurzfristiger Dauer. Die Bildungsexperten verweisen auf Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie, die belegen, dass eine Voraussage über die schulische Entwicklung im Jugendalter unzuverlässig ist. Bis nach der Pubertät schwanken Schülerinteressen noch stark.

Auch die Kultusminister haben das erkannt. Deshalb wurden in allen Bundesländern Regelungen geschaffen, die den Übergang zwischen Haupt-, Realschule und Gymnasium erleichtern sollen. Rund 15 Prozent der Schüler wechseln pro Jahrgang die Schulform. Diese Mobilität führt jedoch meist nach unten: Dreimal so häufig werden Schüler abgestuft, als dass sie zu einer höheren Schulform wechseln. Die Abwärtsspirale wirkt sich auf die Abiturientenzahlen insgesamt aus. Mit 36 Prozent, im Vergleich zu 50 Prozent im OECD-Schnitt, liegt Deutschland hier hinten. „Um eine Quote über dem Schnitt zu erreichen, müssten bei uns fast alle den Gymnasialweg einschlagen“, spottet Marianne Demmer von der Bildungsgewerkschaft GEW. „Nach den Wechseln an Realschulen bleibt fast keiner mehr übrig.“

Damit ist klar, dass das Grundübel der deutschen Schulen nicht durch die Möglichkeit eines Schulwechsels korrigiert wird: Wer nach der Grundschule aufs Gymnasium wechselt, das hängt wesentlich vom sozialen Umfeld der Schüler ab. Schüler bildungsferner Schichten landen auch bei gleichem IQ häufiger an den niedrigen Schulformen – im Bummelzug. JOCHEN SETZER

www.gew.de/Studie_Selektivitaet_ und_Durchlaessigkeit_im_deutschen_Schulsystem.html