Ein Land sieht orange

Die Unterstützer von Wiktor Juschtschenko aus dem ganzen Land wollen in Kiew bleiben, bis ihr Kandidat gesiegt hat

AUS KIEW HEIKE HOLDINGHAUSEN

Es braucht nur einer anzufangen, schon bildet sich ein Chor, und der Name „Juschtschenko“ erschallt auf der Rolltreppe in der Metro, im Handyladen, im McDonald’s – „Juschtschenko!“, mit Betonung auf der ersten Silbe. Junge Männer schreien ihn, auf deren Mützen das orangene Fähnchen der ukrainischen Opposition gehisst ist. Sorgfältig geschminkte Damen im Pelzmantel, die das orangene Bündchen um ihre Krokodilledertasche zu Schleifchen gebunden haben, skandieren den Namen des oppositionellen Kandidaten, der am Sonntag auf seltsame Weise die Stichwahl um das Präsidentenamt verloren hat, obwohl er in Umfragen am Wahltag noch mit elf Prozent vor dem Ministerpräsidenten Janukowitsch lag.

Auch Olexander aus Lwiw schreit den Namen Wiktor Juschtschenkos. Der 33-Jährige steht frierend auf dem Unabhängigkeitsplatz und ruft den Namen „seines“ Präsidenten wie Hundertausende auch. „Wir haben Juschtschenko gewählt, also ist er der Präsident“, sagt er. Der junge Mann in beigefarbenem Mantel und schwarzer Mütze blickt durch eine schmale Brille. „Wir warten auf das Startsignal, dann gehen wir erst zur Zentralen Wahlkommission und dann zum Parlament“, sagt er. „Es muss alles geordnet ablaufen, Anarchie taugt nichts.“

Am Freitagmittag hatte er sich mit 15 anderen in Lwiw in den Zug gesetzt und war nach Charkiw in den Osten des Landes gefahren, um dort die Wahl zu beobachten. Unregelmäßigkeiten hat Olexander nicht beobachtet. Aber als die Truppe dann am Montag wieder auf dem Weg von Charkiw ins heimatliche Lwiw war, kamen die Nachrichten übers Handy: Janukowitsch hat die Wahl gefälscht, Janukowitsch wird Präsident. Da sind sie in Kiew ausgestiegen, um dort so lange zu demonstrieren, bis der wirkliche Sieger gewonnen hat.

Schon am Sonntag hatten sich Menschen auf dem Unabhängigkeitsplatz versammelt. In der Mitte hat die Juschtschenko-Partei „Nascha Ukraina“ („Unsere Ukraine“) eine Bühne aufgebaut, auf der ukrainische Bands von Folk bis HipHop für Demokratie und faire Wahlen singen, auf der polnische Solidarność-Kämpfer unter großem Jubel und „Polen, Polen“-Rufen ihre Solidarität bekennen und auf der Wiktor Juschtschenko die Worte an seine Anhänger richtet. Wenn er auftritt, jubelt die Menge.

Auch Diana und Ira brüllen den Namen ihres Helden und hüpfen dazu. „Wir sind hier, weil wir Patrioten sind“, sagt die achtzehnjährige Diana und lacht. Am Morgen hatte sie ihre Kommilitonen im Soziologischen Institut der Uni getroffen und sich dann gedacht, „dass ich jetzt nicht studiere, sondern demonstriere“. Ein paar Studenten seien in der Uni geblieben, „die hatten vielleicht Angst und unterstützen Janukowitsch“, sagt Ira, „das ist deren Ding.“

Juschtschenko sei ja vielleicht auch nicht der ideale Kandidat, sagt Diana. „Aber ich vertraue ihm“, sagt sie, „und immerhin ist er kein Verbrecher wie Janukowitsch.“ Auf ihren blonden Haaren sitzt eine weiße Mütze, am Ende ihres hellblauen Schals flattert das orangefarbene Band. „Wenn Janukowitsch tatsächlich Präsident wird, geh ich vielleicht zu Pora“ („Es ist Zeit“), sagt sie. Bisher hielt sie es nicht für notwendig, der Studentenorganisation beizutreten, die sich für freie Wahlen einsetzt. Aber wenn Janukowitsch kommt, dann schon.

Der Unabhängigkeitsplatz bildet den Anfang des Kreschtschatik, des breiten Kiewer Boulevards. Dort wälzt sich wochentags der Verkehr, auf seinen weiten Bürgersteigen flanieren die Kiewer, verkaufen Bier und quietschende Plastikdackel. Derzeit reihen sich dort dutzende Zelte, über denen die orangenen Flaggen von „Nascha Ukraina“ und die gelben von „Pora“ wehen.

„Jetzt gibt es keine Nationalisten mehr und keine Sozialisten“, sagt der 51-jährige Ruslan, „sondern nur noch Ukrainer.“ Der Wirtschaftsstudent Arsen schluckt und zieht die Mundwinkel nach unten. „Na ja“, sagt er. Er ist gestern mit Freunden in einem Bus aus Lwiw gekommen. Die Polizei, die der regen Anreise aus allen Landesteilen nach Kiew auf der Autobahn Einhalt gebieten wollte, haben sie ausgetrickst: Rom spielt heute gegen Dynamo Kiew, die Studenten haben sich Karten besorgt und sich als Fußballfans getarnt.

„Und, schauen Sie sich das Spiel an?“ Blöde Frage, sie haben Besseres vor. „Wir bleiben so lange, bis Juschtschenko Präsident ist“, sagt der Musiker Olexander. Die Philharmoniker von Lwiw haben für diese Woche alle Konzerte abgesagt, viele Geschäfte, Banken, Fabriken im Westen seien geschlossen, sagt Olexander. Neben der Stadt Kiew haben auch Lwiw, Iwano-Frankiwsk und andere Städte den Wahlsieg Janukowitschs nicht anerkannt. Nur die Janukowitsch-Hochburg Donezk im Osten soll sich bisher hinter den Regierungskandidaten gestellt haben. „Wir haben einen langen Atem“, sagt Olexander, „das können wir den Oligarchen nicht durchgehen lassen.“

Angst vor den Spezialeinheiten, die schwarz gekleidet in Seitenstraßen warten sollen, hat Olexander nicht. „Polizisten und Soldaten werden uns nichts tun“, die seien doch auch nicht für Janukowitsch. Polizisten sind nicht zu sehen, die Straßensperren sind von Studenten besetzt.

Langsam setzt sich die Menge in Bewegung, strömt auf den Kreschtschatik-Boulevard in Richtung Wahlkommission. Olexander verschwindet in der Menge, schwenkt seine Fahne und stimmt ein in den Chor: „Juschtschenko!“