Betreten verboten!

Die Bundestagsbibliothek im Marie-Elisabeth-Lüders-Haus wird am 10. Dezember übergeben – aber nicht an Bücherwürmer. Die dürfen Braunfels‘ exklusive Glasskulptur nur von draußen betrachten

von ROLF LAUTENSCHLÄGER

Wenn Architekten bei der Vorstellung ihrer Gebäude große Vorbilder der Kunst- und Architekturgeschichte zitieren, schimmert hinter dem Eigenlob oft das Bemühen einer Aufwertung hindurch. Stephan Braunfels, Architekt des nun fertigen Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses (MELH) im östlichen Spreebogen, hat am Donnerstag davon reichlich Gebrauch gemacht. Bramante, die späte italienische Renaissance, Le Nôtre und die Treppen und Gärten von Versailles hatten es ihm besonders angetan bei dem Rundgang durch das letzte jetzt vollendete Parlamentsgebäude. Die Stoßrichtung des Zitats indessen bedeutete weniger eine Selbstbespiegelung als vielmehr die Kritik am Versagen des Auftraggebers.

Das MELH, besser bekannt als neue Bundestagsbibliothek, hat Braunfels als öffentlichen gläsernen Kubus mit klarer Absicht der Fortsetzung der Außenräume nach innen und umgekehrt geplant – so wie die barocken Baumeister die Natur in ihre Architekturen verlängerten. Der Deutsche Bundestag jedoch hat das vom Steuerzahler finanzierte Haus per Beschluss für sich allein reserviert. Eine Anmaßung.

Die drittgrößte Parlamentsbibliothek der Welt (1,3 Millionen Bände) mit ihren wunderbaren Leseplätzen und der runden fünfgeschossigen Bibliotheksgalerie hinter den fassadenhohen Aussichtsfenstern hinüber zum Reichstag, zur Spree, dem Spreeplatz und dem Lehrter Bahnhof bleibt für die Öffentlichkeit weitgehend verschlossen. Was ist aus Rita Süssmuths Satz vom „gläsernen Parlament“ geblieben? „Ich bedauere“, sagt Braunfels, „dass die bauliche Absicht, ein öffentliches Haus zu gestalten, nicht gewollt wird. Vielleicht besinnt man sich noch anders.“

Fünfmal hat der Architekt der Pinakothek der Moderne (München) noch das Wort „bedauern“ in den Mund genommen – für den Verschluss der Bibliothek, der Halle, den Versammlungsraum, die noch fehlenden Grünanlagen und ein geplantes Restaurant auf der später einmal nutzbaren Terrasse über der Spree. Zu bedauern freilich hätte Braunfels nichts: Das MELH ist nach der Reichstagskuppel und dem Kanzleramt der dritte gelungene Bau im Spreebogen.

Das MELH bildet mit „dem Sprung über die Spree“ eine Verlängerung des Kanzleramtes und des Paul-Löbe-Hauses in Richtung Osten und ist das baulich-ideologische Symbol der Vereinigung. Äußerlich gleicht es der kammartigen Form seiner Nachbarn. Im Innern hat Braunfels das Gebäude wie eine kleine modernistische Stadt aus kühlen und konstruktiv-geometrischen Formen inszeniert. Das fünfstöckige 65.000 Quadratmeter Geschossfläche fassende Haus, den Lesesaal samt Galerie, einen großen Versammlungsraum, 630 Räume für 750 Angestellte des wissenschaftlichen Dienstes betritt man im Norden und stößt auf die große Betonrotunde, hinter der sich der Lesebereich befindet. Zu ihm gelangt der (nicht öffentliche) Besucher über eine breite Treppe, die zugleich in die weite 75 Meter lange Halle – eigentlich ein Platz – führt.

Entlang dieser liegen, wie Häuser in der Straße aufgereiht, Büro- und Katalogtrakte mit Fassaden, Balkonen und Brücken. An ihrem östlichen Ende schaut man auf ein Stück DDR-Geschichte: den zum Abriss bestimmten Plattenriegel an der Luisenstraße.

Zentrum der MELH-Inszenierung aber bilden die beiden Glaskuben, die von der Spree aufsteigen: ein runder Glaszylinder für den Bibliotheksbereich und ein Kubus für die ansteigenden arenaförmigen Fest- sowie Versammlungssäle hinter den kreisrunden „Fenster-Riesenaugen“. Hier befindet man sich wie auf Plattformen, die den Blick freigeben zum Reichstag und dem Fluss, dem Spreeplatz und zu den anderen Parlamentsgebäuden.

Die Panoramasicht hat Braunfels ganz bewusst gerahmt, als Foto sozusagen, indem ganz oben ein weites Flugdach, die Bildmitte vom „großen Auge“ und zur Erdseite eine Terrasse das Motiv begrenzen. Berlin draußen rückt in diese Hallen wie eine Stadtlandschaft herein, der Sitz an einem Lesetisch rückt fast hinaus und löst die Dialektik von Innen und Außen auf.

Die kleine Bibliotheksstadt mit ihren Plätzen, Häusern, Rundungen, Kunstwerken, Mauerresten und Treppenlandschaften hat Braunfels mit zwei Brücken über die Spree an das Paul-Löbe-Haus angedockt. Der „Schlussstein“ des Parlamentsviertels erscheint von dort betrachtet wie ein heller weißer Flügel. Von seinen Treppenanlagen, die das Haus spreeseitig umschließen – und die ÖFFENTLICH sind –, dagegen wie eine durchbrochene begehbare Skulptur. Hier erinnert nichts an die geschlossene Regierungsarchitektur. Eher denkt man an Braunfels’ Münchener Pinakothek der Moderne.

Postscriptum: Im Untergeschoss der Bibliothek hat der Architekt die Trainingshalle für den „Sportbereich Bundestag“ gebaut. Das ist ein Verein, dem jeder von uns beitreten und dort mitmachen kann. Zum Beispiel Fußball. Das böte die Gelegenheit, natürlich unabsichtlich, einmal Bundestagsabgeordnete abzugrätschen. Vielleicht erinnert sich dann einer an die 221 Millionen Euro „nicht öffentlich nutzbare“ Baukosten.