piwik no script img

Grundschulen turnen rückwärts

SPORTUNTERRICHT Grundschüler treiben wenig Sport. Es fehlen Fachlehrer. Ein Beschluss der Kultusminister könnte die Situation noch verschärfen

In Schulen finden nur etwa zwei von drei Sportstunden statt, ergab der Zweite Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht

VON JANET WEISHART

Jonas ärgert sich: „Hochsprung oder Bockspringen machen wir selten, eher Spiele und Wettrennen. Und wenn wir Basketball trainieren, teilen sich drei Schüler einen Ball“, berichtet der Neunjährige über seinen Sportunterricht. Er besucht die Grundschule Eddelak in Schleswig-Holstein und bewegt sich gern – aber mehr in der Freizeit als in der Schule. Denn „Sport fällt ja oft aus“, erzählt er.

An deutschen Schulen ist Sportunterricht ein Stiefkind. Dabei warnte bereits vor vier Jahren die Sprint-Studie des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB): Nur zwei von drei Sportstunden in Grundschulen finden tatsächlich statt, 50 Prozent davon halten fachfremde Lehrer. Nach der Pisa-Studie von 2006 gelobte die Kultusministerkonferenz öffentlich Besserung und gab mit dem DOSB „Handlungsempfehlungen für die Weiterentwicklung des Schulsports“ heraus: Lehrkräfte sollten „qualifiziert“ aus- und fortgebildet werden, für die Primarstufe sei die „tägliche Sportstunde wünschenswert“.

Was daraus wurde? „Nichts. Es gibt nur weitere Papiere“, resümiert Werner Schmidt von der Universität Duisburg-Essen. Der Sportpädagoge gibt den „Zweiten Deutschen Kinder- und Jugendsportbericht“ heraus. Dessen Ergebnisse enttäuschen erneut. „Nur 2,2 von drei Sportstunden sind Schulalltag. In den alten Bundesländern erteilen fachfremde Lehrer etwa 80 Prozent der Sportstunden, in den neuen Ländern sind es zum Glück nur 20 Prozent. Diese fachfremden Lehrer sind unsicher im Umgang mit vielen Sportgeräten wie Barren oder Reck und beziehen diese kaum ein“, sagt Schmidt.

Eine Studie der Hochschule Weingarten von 2008 bestätigt die schlechte Unterrichtsqualität: Nur die Hälfte der fachfremden Lehrer bietet den Schülern ein differenziertes Unterrichtsangebot mit variierenden Aufgaben. Leistungsschwache Kinder lassen sich so schlecht fördern. Und bloß acht Prozent der fachfremden Lehrer sind bereit, sich regelmäßig weiterzubilden oder Fachliteratur zu lesen.

Kindern mangelt es heutzutage an Möglichkeiten, sich zu bewegen. Sportwissenschaftler Schmidt kämpft daher seit Jahren für eine tägliche „Sport- und Bewegungsschulstunde“. In der Praxis ist sie eine Ausnahme. „Dabei wäre tägliches Turnen in der Grundschule und auch im Kindergarten für die kognitive und sprachliche Entwicklung enorm wichtig und förderlich. Sport baut zudem nicht nur Kalorien, sondern auch Aggressionen ab und erhöht die Konzentration“, sagt Schmidt und fragt sich: „75 Prozent aller Kinder wünschen sich Sportstunden – wieso kommen die Politiker dem nicht nach?“

Gerade bei jenen 33 Prozent der Schüler, die laut einer Forsa-Studie von 2008 nach dem Unterricht keinen Sport mehr machen, kann nur der Schulsport die Weichen dafür stellen, ob sie Bewegung als Teil ihres Lebens oder als lästige Pflicht ansehen.

Die Kultusminister wissen das – und stellten darum jüngst den neuen Studienbereich „Ästhetische Bildung“ in der Ausbildung von Grundschullehrern vor. Er vereint die Fächer Sport, Musik und Kunst und soll zum Grundwissen aller Lehrer gehören. Doch Sportverbände sind entsetzt. Der DOSB kritisiert: „Damit wird der Sportunterricht aufgeweicht, faktisch aufgegeben.“

Die Kultusministerkonferenz (KMK), vom Gegenwind überrascht, will den Beschluss nachbessern. Aber Burkhard Jungkamp, ehemaliger Leiter der KMK-Sportkommission, fühlt sich missverstanden und betont: „In der Primarstufe gibt es doch weiterhin ein Fachstudium Sport.“ Die Ausbildung werde bloß breiter angelegt, Grundschullehrer erlangten dann auch Grundkenntnisse in ästhetischer Bildung. Jungkamp: „Das stellt den Sportunterricht nicht ins Abseits. Im Gegenteil: Dies ist ein Schritt in Richtung ‚Bewegte Schule‘ “.

Der Präsident der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft, Bernd Strauß, sieht das anders. Er fürchtet, dass Länder und Universitäten den KMK-Beschluss als „Sparmodell“ nutzen. Eine Gefahr, die auch Udo Hanke, Präsident des Deutschen Sportlehrerverbandes, ausmacht: „Letztlich kommt es darauf an, wie die Länder und die Grundschulen mit dem Beschluss umgehen. Das Problem wird allerdings auf die Schulleiter verlagert. Die könnten nun sagen: Ein Lehrer, der ‚Ästhetische Bildung‘ belegt hat, reicht mir für die Schüler – auch wenn der nur ein ‚Minisportlehrer‘ ist.“

Das Fazit: Qualifizierte Fachlehrer könnten eingespart werden – und damit viel Geld.“ Weiter vermutet Hanke, „lässt sich mit ‚Minisportlehrern‘ auch die Statistik der fachfremden Sportlehrer schönen“. Gut für die Kultusminister. Schlecht für Schüler Jonas. „Er wird im Sport wohl auch wieder nur Spielchen machen“, vermutet seine Mutter.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen