Das wirkliche Leben

Häuser und Herzen geöffnet: In vielen Berliner Kinos läuft heute „Suite Havanna“ an. Ein Gespräch mit dem kubanischen Regisseur Fernando Pérez über die Straße als Drehbuch, 24 Stunden lang

INTERVIEW OLE SCHULZ

taz: Herr Pérez, in ihrem Film „Suite Havanna“ werden zehn Menschen einen Tag lang durch ihren Alltag begleitet. Wollten sie einen realistischen Eindruck vom Leben in Havanna vermitteln?

Fernando Pérez: Der Film ist ein Teil der Realität, in der ich lebe, aber wie bei jeder cinematografischen Arbeit enthält er auch eine subjektive Sichtweise. Es ist das wirkliche Leben der Menschen, das gezeigt wird, allerdings von meinem persönlichen Standpunkt aus gesehen. Ich glaube, es gibt viele Havannas, die der Film nicht alle zeigen kann. Doch, was in „Suite Havanna“ zu sehen ist, halte ich für repräsentativ, es ist das populäre, volkstümliche Havanna. Ein großer Teil der „Habaneros“ lebt so wie in dem Film.

Wie haben Sie all die Protagonisten gefunden, etwa die 79-jährige Amanda, die auf der Straße Erdnüsse verkauft, um zu überleben?

Die meisten haben wir auf der Straße getroffen. Nehmen wir Amanda: Sie ist ein Beispiel für all jene alten Menschen, die seit der sozialen und wirtschaftlichen Krise der 90er-Jahre irgendwelche Kleinigkeiten verkaufen. Das gab es früher in Kuba nicht. Ich kannte Amanda nicht persönlich, wusste aber von meinen Streifzügen durch die Stadt, dass es zahlreiche solcher Rentnerinnen gibt. Bei den anderen Protagonisten des Films war es ähnlich. Sie ausfindig zu machen war nicht schwierig, und die meisten haben uns sogleich die Türen ihrer Häuser und Herzen geöffnet, ohne irgendetwas dafür zu verlangen. Sie haben uns vertraut und wir ihnen. Ich denke, das ist der Grund dafür, dass viele der Bilder so spontan und wahrhaftig wirken.

Sie haben „Suite Havanna“ eine „nichtfiktionale Fiktion“ genannt. Was heißt das?

Schauen Sie, um die Einordnung des Films gab es viele Diskussionen. Sicher ist, dass es die Realität ist, die in dem Film gezeigt wird, ich habe nichts geändert. Gleichzeitig ist die Filmsprache „Suite Havannas“ an den fiktionalen Film angelehnt: Wir haben mit aufwändiger Beleuchtung gearbeitet, mit Kamerakran und -schwenks, Schuss und Gegenschuss, also Techniken, die normalerweise nur bei Spielfilmen verwendet werden.

„Suite Havanna“ wurde vergangenes Jahr in Kuba stürmisch gefeiert. Das ist ungewöhnlich für einen Dokumentarfilm, der ohne Dialoge auskommt und allein von der Montage der Bilder, der Musik und Geräusche lebt.

Die ersten Male, als der Film aufgeführt wurde, dachte ich, er würde vom kubanischen Publikum abgelehnt werden, weil sich die Menschen darin nicht wiedererkennen würden. Doch das Gegenteil war der Fall. Ich glaube, das liegt daran, dass das Bild vom extrovertierten, sprachgewaltigen und tanzfreudigen Kubaner einerseits zwar schon stimmt – wir sind so! –, doch zugleich ist es eine Vereinfachung, denn auch die Kubaner haben eine intime Seite und sind – wie alle Menschen – komplexer, als ein solcher Topos es ausdrücken kann.

Stand von vornherein fest, dass der Film keine Dialoge haben würde?

Ja, denn ich glaube sehr an Bilder als Möglichkeit, um Stimmungen auszudrücken. Dagegen wird das Interview als Stilmittel häufig übertrieben eingesetzt. Manchmal hat das zur Folge, dass man keine wirklichen Menschen mit Gefühlen zu sehen bekommt, sondern lediglich „talking heads“ – und das haben wir versucht zu vermeiden. Wir haben bei „Suite Havanna“ ganz ohne Drehbuch gearbeitet. Es stand allein fest, dass wir die Hauptpersonen 24 Stunden in ihrem Leben begleiten wollten. So ist die Endstruktur des Films erst beim Schnitt entstanden. Die Tonspur ist nicht natürlich, wie es vielleicht erscheinen mag, wir haben sie erst im Studio künstlich erzeugt.

Sie verschweigen die Armut nicht, die es in Kuba gibt. Brachte es keine Probleme, dass sie die Schattenseiten des kubanischen Sozialismus so offen ins Bild gesetzt haben?

Ich glaube, wir leben so, wie ich es gezeigt habe. Wer das nicht sehen möchte – das ist sein Problem. Ich könnte jedenfalls keinen Film machen, der die Dinge verfälscht. Es mag Leute geben, welche meine Sichtweise nicht mögen, aber sie ist meines Erachtens ein Teil unseres Lebens.

Es gab also keinerlei Einflussnahme durch staatliche Behörden?

Nein. Ich hatte absolute Freiheit bei der Realisierung des Films, bin mir aber auch ziemlich sicher, dass es ab einer gewissen Ebene Vorbehalte gegeben haben dürfte. Doch öffentlich gab es keine negativen Reaktionen, und auch keine Zensur.

Im letzten Bild von „Suite Havanna“ wird zur Biografie der alten Amanda der Satz eingeblendet: „Ich habe keine Träume mehr.“ Ist das nicht ein etwas trauriges Ende?

Von einem bestimmten Standpunkt aus stimmt das. Meine Absicht war folgende: Bei den Biografien und Lebensträumen, die am Ende zu jedem Protagonisten eingeblendet werden, wollte ich einen Bogen spannen – beginnend mit dem Jungen Francisquito und endend mit der Rentnerin Amanda. Und Amanda hatte zu diesem Zeitpunkt eben keinen besonderen Traum. So ist das Leben nun mal. Und die anderen? Einige werden ihre Träume verwirklichen können, andere nicht. Für mich macht genau das den Sinn des Lebens aus.