„Diese Mädchen müssen wir schützen“

Zwangsheirat soll Straftatbestand werden. Darin sind sich ExpertInnen bei einer Anhörung im Abgeordnetenhaus einig. Der vorliegende Gesetzentwurf aber greife zu kurz. Auch das Aufenthaltsrecht müsse verbessert werden

„Wer sich gegen Zwangsheirat wehrt oder auch später wegläuft, ist extrem gefährdet, mit Gewalt zurückgebracht und schlimmstenfalls sogar getötet zu werden“, sagt Eva Kultus von der Kriseneinrichtung Papatya. „Diese Mädchen müssen wir schützen.“ Kultus weiß, wovon sie spricht. Seit fast 20 Jahren betreibt der Verein eine Zufluchtswohnung für junge Migrantinnen. Acht Plätze für 13- bis 21-Jährige gibt es hier, pro Jahr werden 60 bis 70 Mädchen betreut. Knapp die Hälfte von ihnen ist von Zwangsheirat bedroht oder wurde gegen ihren Willen verheiratet. Die Mädchen stammen häufig aus der Türkei, aus arabischen und afrikanischen Ländern, „sie kommen aus muslimischen, aber auch aus christlichen Familien“.

Wie viele junge Frauen insgesamt betroffen sind, weiß niemand. 2003 wurde in Berlin erstmals der Versuch gemacht, Zahlen zu erheben. 230 Fälle wurden dabei registriert. „Die Dunkelziffer ist weit höher“, sagt Kultus. „Ich kann aber nicht bestätigen, dass Zwangsheiraten zunehmen, wie man häufig hört.“

Die Psychologin war eine der ExpertInnen, die gestern vom parlamentarischen Ausschuss für Frauen und Arbeit gehört wurden. Der Hintergrund: Die FDP setzt sich – mit großer Unterstützung im Abgeordnetenhaus und auch der zuständigen Justizsenatorin Karin Schubert (SPD) – dafür ein, dass das Land im Bundesrat einen Gesetzentwurf aus Baden-Württemberg zur Bekämpfung von Zwangsheirat unterstützt. Der Entwurf sieht vor, Zwangsheirat zu einem eigenen Straftatbestand mit einem Strafrahmen zwischen drei Monaten und fünf Jahren zu machen. Bislang läuft Zwangsheirat strafrechtlich als Nötigung. Parallel dazu will auch die rot-grüne Bundesregierung das Strafgesetzbuch verändern, aber keinen eigenen Straftatsbestand einführen. Die geladenen ExpertInnen unterstützen weitgehend den Vorstoß, mahnten aber Änderungen an.

„Die Position der Opfer wird zu wenig berücksichtigt“, kritisierte der Migrationsbeauftragte Günter Piening. Er fordert, dass die Frauen, auch wenn sie für längere Zeit ins Ausland verschleppt werden, ihr Aufenthaltsrecht in Deutschland nicht verlieren. Frauen, die durch Zwangsheirat nach Deutschland kommen, müssten mithilfe der Härtefallregelung „unkompliziert ein Aufenthaltsrecht bekommen“. In vielen Fällen kommen die Ehefrauen aus der Türkei im Rahmen der Familienzusammenführung nach Berlin. Ihr Aufenthaltsrecht ist an die Ehe gebunden.

Elke Plathe vom Landeskriminalamt betonte, wie wichtig auch aus polizeilicher Sicht ein sicherer Aufenthaltsstatus ist. „Der ist entscheidend dafür, ob ein Strafverfahren durchgestanden werden kann.“ Das wisse man aus vergleichbaren Prozessen – etwa um Menschenhandel.

Die Rechtsanwältin Seyran Ates sagte, zentral sei, dass Zwangsverheiratung ein eigener Straftatbestand wird: „Das ist ein eindeutiges Signal, dass eine solche Menschenrechtsverletzung hier nicht geduldet wird.“ Sie forderte die Erhöhung der Mindeststrafe auf ein Jahr. „Dann gilt es als das, was es ist: ein Verbrechen.“ In Sachen Aufenthaltsrecht ging Ates noch über Piening hinaus: Sie forderte, den Täter mit aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen zu drohen. „Man muss ihnen dieses Erpressungsmittel nehmen.“

Die ExpertInnen betonten, Hauptziel müsse sein, Zwangsheirat zu verhindern. Deshalb müsse man an die Mädchen ran. „Sie kann man über die Schulen erreichen“, sagte Papatya-Mitarbeiterin Kultus. Nach Plänen der rot-roten Koalition soll es künftig an allen Schulen eine Lehrerin geben, die Ansprechpartnerin speziell für Mädchen mit Migrationshintergrund ist.

Fast unmöglich sei es, an die „auswärtigen Bräute“ heranzukommen, sagt Kultus. „Sie leben rechtlos und eingesperrt mitten in Berlin.“ Die Mädchen, die den Weg zu Papatya finden, sind meist hier geboren oder leben seit vielen Jahren in Berlin. Piening hofft, dass über die Integrationskurse, die durch das neue Zuwanderungsgesetz für Neueinwanderer verpflichtend sind, auch die anderen Mädchen erreicht werden. SABINE AM ORDE