Dem Suizid auf der Spur

Mit einem ausgeklügelten Präventionsprogramm wollen Wissenschaftler die Selbstmordrate in Nürnberg senken. Jetzt liegen erste Ergebnisse des einzigartigen Forschungsprojektes vor

Deutlichmehr Männer als Frauen nehmen sich das Leben

VON CHRISTOPHER BAETHGE

In den vergangenen zwei Jahren unternahm man alles, um die Selbstmordrate in Nürnberg zu senken. Unter Leitung Professor Ulrich Hegerls von der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München kam in einem weltweit einzigartigen Forschungsprojekt ein ausgeklügeltes Präventionsprogramm zur Anwendung.

Ausgehend von der Annahme, dass Suizide „die Spitze des Eisbergs Depression“ seien, wurden die Ärzte Nürnbergs intensiv zur Depression und deren Behandlung beschult. Weil sich die meisten Selbstmorde im Alter ereignen, gab es Fortbildungsveranstaltungen für Altenpflegekräfte, aber auch Lehrer und Pfarrer wurden mit einbezogen. Eine extra eingerichtete Homepage verzeichnete nach einiger Zeit rund 1.500 Besucher pro Tag. Apotheken verteilten mehr als 100.000 Broschüren und Handzettel, Plakate wurden geklebt und Kinospots gezeigt; es fanden Aktionstage und Lesungen statt; die Lokalzeitungen klärte man über den „Werther-Effekt“ (Nachahmungstaten) auf und mahnte zu entsprechend zurückhaltender Berichterstattung.

Vor allem aber versuchten die Forscher diejenigen Patienten, die bereits einmal einen Suizidversuch unternommen hatten, in eine bessere Nachsorge einzubinden; Selbsthilfegruppen gründeten sich, eine 24-Stunden-Hotline nahm die Arbeit auf.

Dagegen in Würzburg: Treatment as usual. Die Wissenschaftler hatten die Residenzstadt wegen ihrer ähnlichen Bevölkerungsstruktur ausgewählt, um die Erfolge des Nürnberger Projekts („Nürnberger Bündnis gegen Depression“) im Vergleich abschätzen zu können. Nun haben sie erste Resultate der Fachöffentlichkeit präsentiert (Deutsches Ärzteblatt 2003; 42): Es zeigt sich für das Jahr 2001 eine eindrucksvolle Abnahme der Suizidversuche in Nürnberg um etwa 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr während im gleichen Zeitraum in Würzburg diese Zahl um etwa 15 Prozent anstieg.

Auch die Zahl der Selbstmorde ging deutlich zurück. In Nürnberg registrierte man 25 Prozent weniger vollendete Suizide. Überraschenderweise kam es aber in Würzburg zu einem noch stärkeren Rückgang: minus 27,6 Prozent. Wie ist dieses, im Sinne der Studienhypothese enttäuschende Ergebnis zu erklären?

Die Wissenschaftler weisen zu Recht darauf hin, dass es sich um vorläufige Resultate handelt und die Ergebnisse der nächsten Jahre abgewartet werden müssen. Zufällige oder auf unbekannte Ursachen zurückgehende Schwankungen könnten für den Nichtunterschied zwischen Nürnberg und Würzburg eine Rolle gespielt haben.

Es erscheint aber ebenso denkbar, dass einige der in Nürnberg eingeleiteten Maßnahmen erst nach einer gewissen Zeit ihre volle Wirksamkeit entfalten. Hier ist etwa an die verbesserte Nachsorge für die Risikogruppe derjenigen zu denken, die bereits einmal versucht hatten, sich das Leben zu nehmen.

Bei der Suche nach möglichen Erklärungen rücken jedoch auch andere Ergebnisse der Studie ins Blickfeld. Während sich der Rückgang der Suizidversuche in Nürnberg vor allem in der Gruppe der unter 50-Jährigen abspielte, gingen die Selbstmorde in beiden Städten im Wesentlichen bei den Älteren zurück. Diese divergierenden Tendenzen zusammen mit der Entdeckung, dass sich in Würzburg Suizide und Suizidversuche in unterschiedliche Richtungen entwickelten, könnten dafür sprechen, dass vollendete Suizide und ein Gros der Selbstmordversuche völlig unterschiedliche klinische Phänomene sind. Nicht nur in Bezug auf den Ausgang.

Auch konnte bisher noch nicht zweifelsfrei gezeigt werden, dass die Anwendung von Antidepressiva die Suizidwahrscheinlichkeit senkt. Dennoch erscheint der Ansatz des „Nürnberger Bündnisses gegen Depression“ plausibel durch verbesserte Behandlung von Depressionen auch die Suizidzahl zu senken. Nach den bisherigen Ergebnissen bleibt jedoch abzuwarten, ob er sich auch empirisch bestätigen lässt.

Die Beobachtung abnehmender Suizidraten in Franken stehen im Einklang mit einer allgemeinen Entwicklung: In Deutschland mit seinen aktuell jährlich ungefähr 11.000 Suiziden geht die Zahl der Selbsttötungen zurück. Dieser Trend gilt auch für die meisten anderen Länder der Europäischen Union, wohingegen einige osteuropäische Staaten eine wahre Suizidepidemie erleben. Dies ist das Ergebnis einer Studie, die kürzlich von einer Arbeitsgruppe um Professor Fabio Levi vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin, Lausanne, vorgelegt wurde.

Die Forscher konnten Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu 47 Ländern auswerten. Der entscheidende Maßstab der Suizidologen ist dabei die Suizidziffer: die Zahl der Selbstmorde unter 100.000 Einwohnern im Verlaufe eines Jahres. Seit langem geben die erheblichen regionalen Unterschiede in den Suizidziffern den Wissenschaftlern Rätsel auf.

Ungarn etwa ist ein Land mit einer traditionell hohen Suizidziffer. In den Achtzigerjahren starben dort relativ mehr Menschen durch Selbstmord als etwa in Japan oder Frankreich durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

In Mexiko, Israel und Griechenland dagegen liegen die Ziffern um ungefähr den Faktor zehn niedriger. Ebenso etabliert ist die Beobachtung, dass sich deutlich mehr Männer als Frauen das Leben nehmen. In der Bundesrepublik lag die Suizidziffer für Männer in den Jahren 1995–99 mit 16,6 (1980–84: 23,4) mehr als dreimal so hoch wie die für Frauen mit 5,2 (1980–84: 9,8). Zum Vergleich: Im EU-Durchschnitt töten sich pro Jahr 14,4 von 100.000 Männern und 4,6 von 100.000 Frauen. In der Schweiz und in Österreich liegen die Werte deutlich über den deutschen.

Unter allen 47 untersuchten Ländern weist Griechenland die niedrigsten Kennzahlen auf (4,6 beziehungsweise 0,9). In der Europäischen Union zeigen nur Irland und Spanien ansteigende Raten, dies allerdings auf niedrigem Niveau und auch nur für Männer. In den Vereinigten Staaten liegt die männliche Suizidalität (16,4) ungefähr genauso hoch wie in Deutschland, während sich US-amerikanische Frauen seltener als deutsche zu suizidieren scheinen (3,7).

Grundverschieden ist die Situation in der Russischen Föderation: Für russische Männer wurde bereits in den frühen Achtzigerjahren ein erhebliches Niveau an Selbsttötungen dokumentiert (36,8), mittlerweile (1995–99) liegt die Zahl aber bei 58,3, was einer Steigerung um 55 Prozent entspricht. Auch hier haben Frauen einen entschieden niedrigeren Wert: 9,5 (1980–84: 8,5).

Ähnlich dramatische Zahlen werden in den baltischen Republiken erhoben. Dabei wird die höchste Suizidziffer unter allen untersuchten Nationen in Litauen gemessen: 67,8 Selbstmorde pro 100.000 Männer und Jahr. Besonders hohe Suizidziffern von Frauen sind in Ungarn (10,2), in Litauen (11,7) und am höchsten in Kuba (11,9) zu beobachten.

Unglücklicherweise gehen die Autoren nicht auf die unterschiedlichen Dokumentationsregularien in den verschiedenen Ländern ein, so dass die Vergleiche zwischen einzelnen Staaten sicher mit ähnlicher Vorsicht zu genießen sind wie Vergleiche von Arbeitslosenzahlen. Zuverlässiger sind vermutlich die Tendenzen innerhalb bestimmter Länder.

Auch die Gründe für die starken Schwankungen bleiben nach wie vor im Dunkeln, obwohl man angesichts der gefundenen Unterschiede geneigt ist, beispielsweise über die Bedeutung von Umbruchsituationen wie der Perestroika oder über weltanschauliche Faktoren – säkulares versus religiöses Weltbild – zu spekulieren.