ROBIN ALEXANDER über SCHICKSAL
: Ich wurde mit einer Frau gesehen

Ein Kollege verfolgt mich nachts. Er hat uns beobachtet. Als US-Präsident wäre ich jetzt erledigt

Heute werden keine Späße über Tierschützer gemacht. Es werden an dieser Stelle überhaupt keine Späße über Tierschützer mehr gemacht. Nie mehr. Versprochen. Denn letzte Woche haben die CDU-Ministerpräsidenten im Bundesrat dafür gestimmt, dass Hühner auch weiterhin in Käfigen gehalten werden, die kleiner sind als ein DIN-A4-Blatt. Für zwei Arbeitsplätze fuffzig und um Frau Künast zu ärgern, verlängern diese Leute die Qual der Kreatur. Schande!

So. Das musste einmal gesagt werden. Nun zu anderen unangenehmen Dingen. Ich wurde mit einer Frau gesehen. Der naive Leser mag nun denken: „Nun, so etwas mag vorkommen, das ist außerhalb der katholischen Bischofskonferenz und dunkler Räume hinter Kneipen mit Regenbogenfahnen doch fast unvermeidlich.“ Aber der Leser ist ja nicht naiv. Er ahnt vielmehr: Jetzt wird es spannend. Jetzt lockt guter Sex und böser Betrug. Schlimme, schöne Dinge. Sperma und Tränen. Vielleicht sogar Blut. Und jetzt fährt sich auch der sensibelste Leser, der gerade noch Mitleid mit den Hühnern fühlte, mit der Zungenspitze über die Oberlippenunterkante und denkt: Hmmh. Lecker.

Alles kam heraus, weil mich ein Kollege eines Nachts zufällig traf. Schon am nächsten Morgen steht er im Großraumbüro – ich verberge mich hinter den großen Seiten eines Konkurrenzorgans wie unter einem Panzertarnnetz – und sagt laut: „Ich habe dich gestern Abend auf der Torstraße mit einer Frau gesehen.“ Bisher hatte ich zu diesem Menschen ein kollegiales, ja, beinahe kameradschaftliches Verhältnis. Er veröffentlicht einmal in der Woche eine Zeitungsseite, auf der er der Bundesregierung davon abrät, Studiengebühren einzuführen. Die anderen Tage kümmert er sich als moderner Vater um zwei kleine Kinder. Kurz: Er ist der Fortschritt auf zwei Beinen und außerdem ein netter Kerl. Jetzt sagt er: „Sie war blond“ und fügt, wie der Blick der anwesenden Sozialredakteurin verrät, völlig überflüssigerweise hinzu: „Und sie war nicht deine Frau.“ Erst als der Lärm den Redaktionsassistenten und zwei Praktikantinnen angelockt hat, beginne ich hilflos, mich zu rechtfertigen: War nur eine Bekannte. Waren auf einer Lesung. Dann noch was trinken gegangen. Nur geredet. Zum Nachtbus gebracht. Allein nach Hause gegangen. Was geht dich das überhaupt an?

Darauf zieht der widerliche Stasispitzel, den ich vor zwanzig Zeilen irrtümlich als netten Kerl beschrieb, seinen Trumpf: „Ich bin euch gefolgt: Du hast sie angefasst!“ In diesem Moment wünsche ich den Kollegen in einen DIN-A4-Hühnerkäfig. Ich bin erledigt – müsste ich jetzt denken, wäre ich amerikanischer Präsident. Gottlob bin ich aber nicht Präsident, und wir befinden uns in Mitteleuropa. Und hier kennt man die jahrhundertealte Kulturtechnik des Unterhakens, in anderen deutschen Gegenden auch als Einhaken oder Einhenkeln bekannt. Unterhaken geht so: Der Herr vergräbt die linke Hand in der Jackentasche und bewegt den Ellenbogen vom Körper weg. Die Dame streckt nun ihren rechten Arm zwischen männlichem Rumpf und männlichem Arm hindurch, winkelt ihrerseits den Arm an und lässt ihre Hand über seinen Unterarm baumeln. Die einzigen Körperteile, die sich dabei berühren, sind die Armbeugen. Ich betone: die Armbeugen. Diese werden – zumindest, wenn die Beteiligten Wintermäntel tragen – nicht zu den erogenen Zonen des menschlichen Körpers gezählt. Der Geste des Unterhakens fehlt daher jede sexuelle Konnotation. Auch die ausgedrückte Vertrautheit bleibt, anders als beim Händchenhalten, distanziert. Meine Oma hakt sich bei mir unter, wenn wir über den Friedhof gehen. Und so mag es tatsächlich gewesen sein, dass eine blonde Frau bei mir untergehakt durch eine Winternacht ging.

Mit diesem Argument bin ich diesmal noch davongekommen. Aber langfristig wird etwas so Subtiles wie Unterhaken leider verloren gehen, in einer Welt, in der Menschen ihre Konkurrenten abklatschen, ihre Feindinnen auf die Wange küssen, ihre Chefs duzen und ihre Kollegen in der Nacht verfolgen.

Ist Unterhaken Untreue? kolumne@taz.de . Morgen: Matthias Urbach DER PERFEKTE KAUF