„Die Studenten sind die Nachhut des sozialen Aufbegehrens“, sagt Herr Bargel

Heute denken die Studierenden anders als früher: Sie sehen sich als Kunden, die eine Dienstleistung einklagen

taz: In der ganzen Republik gehen Studierende nicht mehr in Vorlesungen, sondern auf die Straße. Die ersten 68er jubeln schon: hui, eine Studi-Bewegung. Ist das eine?

Tino Bargel: Diese Erwartung ist albern. Und historisch falsch ist sie obendrein. Das jetzige Aufbegehren ist keine Bewegung, sondern eher eine Interessenvertretung. Die Studierenden wehren sich gegen Sparbeschlüsse und gegen Studiengebühren. Es geht also um die studentische Position im Verteilungskampf.

Was fehlt, damit es eine politische Bewegung wird?

Es gibt keine übergreifende soziale Idee. Die Studis, die jetzt auf der Straße sind, wollen keine Ungleichheiten abschaffen oder etwa die Machtverhältnisse in der Wirtschaft umgestalten.

Es gibt solche Themen. In Jena haben StudentInnen gerade zu bundesweiten Demos gegen „Bildungs- und Sozialabbau“ aufgerufen.

Das ist allenfalls der Ansatz zu einer übergreifenden Politisierung. Attac etwa übt Kritik an der Globalisierung. Das fließt selbstverständlich auch bei den Studenten mit ein. Aber nur am Rande. Wenn man eine Bewegung sein will, muss man erst mal nachdenken, wo man gesellschaftlich hin will.

Und das ist nicht der Fall?

Ja. Ich finde, die Studis machen sich zu wenig Gedanken. Sie übernehmen keine Verantwortung, außer sich um ihre Belange zu kümmern.

Das wird der Studierende 2003 nicht gerne hören.

Es gibt schon sehr viele sehr engagierte Studenten. Die machen die Erfahrung, dass sie mit inhaltliche Angeboten bei ihren Kommilitonen nicht landen. Viele sind schlicht desinteressiert.

1997 lockte ein so genannter „Lucky Strike“ immerhin eine halbe Million auf die Straße.

Die Studis sahen damals, dass sie mehrere Semester auf Pflichtseminare warten sollten – und fürchteten um ihre Zukunftsperspektiven. Dass sich das ganz schnell zu einer nationalen Bewegung hochschaukelte, ist generell bei Studenten so. Wenn sie erst einmal protestieren, dann entfalten sie sehr schnell Aktivitäten – auch aggressivere Protestformen. Studenten sind eben keine Angestellten, die nur brav mit Winkelementen arbeiten.

Wo liegt der Unterschied zwischen den 97er-Demos und denen von 2003?

Der Protest folgt diesmal den Demos anderer sozialer Gruppen nach. Die Studenten sind nicht die Avantgarde sozialen Aufbegehrens, sondern ihre Nachhut. 1997 war zudem Strohfeuer. An Weihnachten war schlagartig Schluss mit dem Potest. Ich bin nicht sicher, ob es diesmal wieder so ist.

Warum? Weil die ganze Republik gerade über Reformen und Gerechtigkeit streitet?

Die ersten Studenten beginnen, soziale Gegensätze zu thematisieren. Die derzeitigen Gerechtigkeitsprinzipien kommen ja sehr marktförmig daher. Dahinter steht, bis weit in die SPD hinein, ein ökonomisches Gesellschaftsverständnis. Wenn es den Studierenden gelänge, ein anderes Konzept dagegen zu setzen, dann kann der Protest eine Idee bekommen.

Wie 68?

Auch damals hat es sich Schritt für Schritt konzeptuell aufgebaut. Erst fühlten sich die Studenten nicht mehr heimisch in der Adenauer-Ära. Dann übten sie Kritik an der Rolle der Unis im Nationalsozialismus. Die Notstandsgesetze und der Vietnamkrieg brachten das Fass zum Überlaufen. Die Studenten griffen zu neuen Protestformen.

Wie ticken die Studis politisch? Was hat sich da geändert?

Die Studis sind politisch heterogener geworden. Die meisten fühlen sich, das zeigen unsere Studien, in der Rolle des abwartenden Zuschauers. Alternative grüne Ideen, auch sozialistische Zielsetzungen haben dagegen rasant an Bedeutung verloren – selbst bei den Studenten der Sozial- und Geisteswissenschaften.

Was ist den Studis wichtig?

Die ökonomische Sichtweise. Der Student als Kunde, der eine ordentliche Dienstleistung einklagt. Solche Studenten sind stark in den Gremien – und führend in der Meinungsbildung.

Die Protestler regen sich mächtig über Unigebühren auf, weil sie das „Recht auf Bildung“ verletzten. Über Pisa und die viel schlimmere Beschädigung des Bildungsrechts durch die deutsche Schule verlieren sie sonderbarerweise kein Wort.

Für solche Zusammenhänge sind Studenten einfach zu denkfaul. Sie tun sich schwer zu kapieren, warum die viel zitierten Arbeiterkinder immer seltener an den Hochschulen zu finden sind. Der Widerstand gegen Studiengebühren ist bei vielen eher ein Affekt – es schadet ihren Vorteilen. Wenn Studiengebühren das Hauptthema bleiben, werden die Studis ernsthaft Probleme bekommen.

Warum?

Eine Schwarzweißposition ist da auf Dauer nicht vermittelbar. Es ist zu simpel, jede Form von Studiengebühren als Teufelszeug zu verdammen.

Warum sind die Studis eigentlich so streikbereit? Lehrlingen zum Beispiel, denen es viel schlechter geht, machen gar keine Demos.

Studenten sind immer demonstrabler als andere. Sie sind im günstigen Alter zwischen 18 und 27, sie sind nicht betrieblich eingebunden, in keinem engen Zeitkorsett – und sie sind massenhaft zusammen. Das war schon zu Goethes Zeiten so. Da zog man schnell mal durch die Straßen und schmiss die Laternen ein, weil man was gegen die Bürger hatte. Und dann war es auch wieder gut. Das ist das Besondere an Studenten: Sie regen sich schnell auf – und gehen flugs wieder nach Hause.

INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER