Eine ganze Flut von Fragen

Nach den verheerenden Überschwemmungen zieht Südfrankreich Bilanz. Die Bevölkerung ist mit Kritik schnell bei der Hand. Denn in jedem Jahr gibt es Hochwasser

PARIS taz ■ Die Bewohner in den südfranzösischen Hochwassergebieten zwischen Narbonne und Toulon konnten gestern wieder aufatmen. Die Regenfälle haben aufgehört, der Wasserstand der Rhône und anderer Flüsse beginnt zu sinken. Die Schäden sind enorm, und viele Opfer der Überschwemmungen können die Katastrophe nicht fatalistisch hinnehmen.

Von einer Normalisierung konnte gestern allerdings noch keine Rede sein. Zwar erscheint die Bilanz der Katastrophe etwas weniger dramatisch als im vergangenen Jahr, als in derselben Region das Hochwasser 24 Menschenleben forderte. Fünf Tote gab es aber auch dieses Mal. 20.000 Menschen mussten, im Notfall oft mit dem Hubschrauber, evakuiert werden. Viele Straßen sind nach wie vor für den Verkehr gesperrt. In der Stadt Nîmes und großen Teilen des Departements Gard ist die Trinkwasserversorgung bis auf weiteres unterbrochen. Dafür konnte gestern in Montpellier der Schienenverkehr in Richtung Spanien, der am Dienstag und Mittwoch völlig zum Erliegen gekommen war, nach und nach wieder aufgenommen werden. Dennoch werden die Bilder der Hochwasserkatastrophe der letzten drei Tage im französischen Midi noch lange in Erinnerung bleiben.

Die Fluten erreichten dieses Mal selbst Stadtviertel von Marseille und Montpellier, wo sie, wie in zahlreichen Dörfern, ihr unaufhaltsames Zerstörungswerk anrichteten. In Saint-Marcel im Osten von Marseille können sich auch die Ältesten nicht an eine solche Überschwemmung erinnern, die Fahrzeuge wie Spielzeugautos wegspülte und die Häuser meterhoch mit Dreckschlamm verwüstete.

Überall sind die verzweifelten und entrüsteten Einwohner mit Vorwürfen an die Behörden und Schuldzuweisungen schnell bei der Hand. Sie machen die Bürgermeister verantwortlich, die in den letzten Jahren skrupellos Baugenehmigungen in bekannten Hochwasserzonen erteilt hätten. Andere werfen den Behördern vor, sie hätten es versäumt, rechtzeitig die Kanäle zu reinigen oder die veralteten Dämme zu stärken. Selbst die Feuerwehr, die seit Montag ununterbrochen und verstärkt durch 2.000 Armeeangehörige im Einsatz stand, musste sich den Vorwurf anhören, sie habe mit der Rodung von Feuerschneisen die Überschwemmungen gefördert.

Seit 1988 erlebte Südfrankreich praktisch jedes Jahr dramatische Hochwasser. Den betroffenen Bewohnern fällt es immer schwerer, diese Katastrophen als unabwendbares Naturschicksal hinzunehmen. RUDOLF BALMER