Wertedebatte im Bundestag

„Moral Values“ auch bei uns: Kanzler Gerhard Schröder preist Patriotismus und Menschenwürde, die Oppositionschefin Angela Merkel Gemeinsinn und Wahrheit

BERLIN taz ■ Zum Erstaunen vieler Europäer wurde US-Präsident George Bush wiedergewählt, weil die Mehrheit der US-Bürger seine moralischen Werte teilt. „Moral Values“ könnten auch hier ein Thema werden – im Hinblick auf die Bundestagswahl 2006. Bei der Generaldebatte über die Politik der Regierung machte Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gestern den Anfang. Eigentlich sollte es um den Haushalt 2005 gehen, doch wie immer in der zweiten Sitzung zum Thema stritten die Parteien um Größeres. Diesmal um kulturelle Werte. Schröder fand „Patriotismus“ und „Menschenwürde“ besonders wichtig.

Mit Schaudern haben sich viele Anhänger von der Bundesregierung abgewendet, weil die rot-grüne Politik den Abstand zwischen Arm und Reich vergrößert. Die kulturelle Mehrheit links von der Union hat mit Sozialökonomie aber nur mittelbar zu tun . deshalb versucht Schröder, dort zu punkten. Zunächst auf untypische Art: Mehrmals appellierte er in seiner Rede an den „Stolz“ der Deutschen auf ihre Leistungen. Die deutschen Soldaten in Afghanistan und auf dem Balkan pries Schröder als Garanten von Frieden und Stabilität, die Erfolge der deutschen Exportindustrie als Basis des kommenden Aufschwungs. Der Union warf er vor, sie dramatisiere die ökonomische Lage und mache Deutschland systematisch schlecht. Dies beeinflusse das Deutschlandbild im Ausland negativ. Des Kanzlers Versuch, die Nation hinter sich zu versammeln, gipfelte in der Behauptung, die „Mehrheit der deutschen Bevölkerung“ beginne, die rot-grünen Sozialreformen zu unterstützen.

Sein ökonomisches Programm buchstabierte Schröder als Bemühen, die „Menschenwürde“ zu verteidigen. Vor allem natürlich gegen die Union, der er vorwarf, eine „unehrliche Wertedebatte“ zu führen. Die Union könne nicht einerseits die Mitbestimmung in den Unternehmen schleifen, den Kündigungsschutz demontieren und die Gesundheitsversicherung privatisieren wollen, dann aber über die „Würde des Menschen“ philosophieren.

Was dem Kanzler der Patriotismus, war Unions-Chefin Angela Merkel der „Gemeinsinn“. Diesen Stoß führte sie mit der Wucht des 3. Oktober. Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) hatte unlängst vorgeschlagen, den Feiertag der Wiedervereinigung auf einen Sonntag zu verlegen, um ein Loch in seinem Bundeshaushalt zu stopfen. Die Idee war in großer öffentlicher Empörung untergegangen – nun Anlass für Merkel, die Wiedervereinigung als Initiationsritus der neuen deutschen Nation gegen die geschichtslose Sozialdemokratie zu verteidigen und für mehr „Gemeinsamkeiten“ einzutreten. Wie passt das zusammen mit dem von der Union verlangten Abschied von der solidarisch finanzierten Sozialversicherung, in die die Beschäftigten heute noch nach individueller Leistungskraft einzahlen? Antwort Merkel: „Wir wollen keinen beiseite lassen. Wir wollen die Leistungsstarken fördern, um den Schwachen zu helfen.“

Außerdem stellte Merkel die „Wahrheit“ in den Mittelpunkt – und rot-grüne „Unehrlichkeiten“ an den Pranger. „Wir räumen auf mit den alten und neuen Lebenslügen der Regierung“, hielt die Herausforderin dem Kanzler entgegen. Die multikulturelle Gesellschaft, wie Rot-Grün sie sich vorstelle, sei gescheitert, sagte Merkel. Die Wehrpflicht müsse erhalten bleiben und angesichts der islamistisch-terroristischen Bedrohung durch einen wirksamen „Heimatschutz“ ergänzt werden. Und schließlich: Die miese Wirtschaftslage und die hohe Arbeitslosigkeit gingen auf das Konto der Bundesregierung. HANNES KOCH