Tag der Disqualifikation

In der Ukraine wird weiter demonstriert. Selbst Boxer und Priester stellen sich gegen den vermuteten Wahlbetrug

AUS KIEW HEIKE HOLDINGHAUSEN

Mit roter Nase steht Wiktor im morgendlichen Schneetreiben auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, die Hände in den Manteltaschen. „Heute entscheidet sich die Zukunft der Ukraine für die nächsten 20 Jahre“, sagt der 18-jährige Student mit Nachdruck, „es ist wichtig, dass wir hier sind.“

Der Mittwoch sollte ein Tag der Entscheidung sein, die Zentrale Wahlkommission wollte am Nachmittag bekannt geben, wer denn nun der endgültig Sieger der Präsidentschaftswahl sei, Ministerpräsident Wiktor Janukowitsch, wie sie es nach bisheriger Stimmauszählung behauptet hatte, oder sein Herausforderer Wiktor Juschtschenko, der in Wahlumfragen am Wahltag mit 11 Prozent geführt hatte. Eine Einladung Kutschmas zu Verhandlungen aller Parteien hatte Juschtschenko zurückgewiesen. Er werde nur mit ihm selbst über eine Machtübergabe sprechen.

Am frühen Morgen waren viele Demonstranten durch den Schneematsch auf den Bürgersteigen gewatet oder über vereiste Straßen geschlittert, um sich auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz zu versammeln. Dort hatten sie noch am Dienstagabend eine fröhliche Party gefeiert und „Ukraine forever!“ gejubelt. Am nächsten Morgen war diese Ausgelassenheit aber einer großen Anspannung gewichen; Angst vor einem gewaltsamen Eingreifen der Regierung machte sich breit.

Einige Demonstranten hatten die ganze Nacht in der Straße zum Präsidentenpalast ausgeharrt, den Namen ihres Präsidenten Juschtschenko skandiert und einer Wand aus schwarz behelmten Polizisten mit Schild gegenübergestanden. Die Polizei der Hauptstadt untersteht der lokalen Verwaltung, die Janukowitsch nicht als Präsidenten anerkennt, und ist bis jetzt nicht gegen die Demonstranten vorgegangen. Die Haltung des Militärs blieb gestern allerdings unklar. Verteidigungsminister Alexander Kusmuk hatte die Streitkräfte zur Ruhe aufgerufen, Berichte über eine verstärkte Truppenpräsenz um Kiew wurden offiziell nicht bestätigt.

„Wir wollen keine Gewalt“, sagten Mitglieder der Studentenbewegung Pora. „Aber wenn Kutschma Truppen schickt, werden wir uns wehren.“ Waffen hätten sie dafür aber nicht. „Wenn Janukowitsch wirklich Schlägertruppen aus Donetsk nach Kiew holt, stellen wir uns ihnen einfach in den Weg.“ Den ganzen Tag wanderten solche Gerüchte über mögliche Gewaltmaßnahmen der Regierung durch die Reihen der Demonstranten vor dem Präsidentenpalast und dem Unabhängigkeitsplatz. Von russischen Soldaten war die Rede, die sich im Präsidentenpalast befinden sollten. Gesehen hatte sie niemand. Auch ein Einsatz des ukrainischen Militärs wurde befürchtet, fand aber nicht statt.

Dafür kam der Boxer Wladimir Klitschko auf die Bühne der Oppositionsvereinigung Nascha-Ukraina und rief der begeisterten Menge zu, Sportler, die sich nicht an die Regeln hielten, würden disqualifiziert – und für Politiker gelte das auch. Die Klitschko-Brüder, die in Deutschland leben, werden in der Ukraine verehrt und haben schon vor der Wahl Wiktor Juschtschenko unterstützt. Auch drei der verschiedenen christlichen Kirchen der Ukraine solidarisierten sich mit ihm.

Wiktor Janukowitsch, der in Kiew seltsam unsichtbar bleibt – im Gegensatz zu den häufigen Auftritten seines Herausforderers –, hatte gesagt, es ereigne sich derzeit nichts Ungewöhnliches. Wiktor Juschtschenko hingegen forderte seine Anhänger auf, den friedlichen Protest fortzusetzen.

Am Abend kam der Spruch der Wahlkommission. Sie hält weiter zu Janukowitsch und erklärte ihn zum offiziellen Sieger. Alles entschieden ist deswegen in der Ukraine aber nicht.