Salz in den Wunden

Ringen um eine neue Identität: Das Buch „Verborgene Stimmen“ der chinesischen Journalistin Xinran dokumentiert Schicksale von Frauen zwischen Tradition, kommunistischer Gleichstellungspolitik und westlicher Welt

von JANE FRÄNZEL und SUSANNE MESSMER

Sucht man in deutschen Buchhandlungen nach Büchern von oder über chinesische Frauen, wird man schnell fündig. Sofort springen einen weich gezeichnete asiatische Frauengesichter mit sepiabraunen Rehaugen neben Lotusblüten, Orchideen- und Jasminzweigen von den Buchdeckeln an. Man überfliegt den Klappentext und sortiert. Erstens: die exotischen „Erotischen Geschichten aus China“. Meistens ziemlicher Schund. Zweitens: das Leiden der Frau in der wirren Zeit um die Jahrhundertwende, Bücher über verzweifelte Frauen, die unter der Unvereinbarkeit der Tradition mit den einbrechenden westlichen Idealen litten. Und schließlich drittens: eine Hand voll Bücher über moderne, starke Frauen seit der offiziellen Gleichstellung der Frau, glanzvolle Geschichten der Emanzipation.

Spätestens hier stutzt man. Glanzvoll? Man denkt an die Einkindpolitik, an Mädchen, die Jungen hätten werden sollen, die abgetrieben, ermordet oder ausgesetzt werden. Wie kann so etwas in einem Land geschehen, das sich die Gleichberechtigung auf seine Fahne geschrieben hat? Wie geht es den chinesischen Frauen heute wirklich?

Inmitten all der tragischen und heroischen Bücher über Einzelschicksale bringt das Buch „Verborgene Stimmen“ der 1958 in Beijing geborenen Journalistin Xinran Licht ins weitgehende Dunkel um die chinesische Frau. Acht Jahre lang hörte Xinran für ihre Radiosendung Anruferinnen zu, deren Lebensgeschichten sie in China dann aber nur zu einem kleinen Teil durch die Zensur bringen konnte. Erst seit sie als freie Journalistin nach London ging, protokollierte Xinran diese Gespräche. Und jetzt, sechs Jahre nach ihrer Ausreise, wurde ihr soeben auf deutsch erschienenes Buch – wenn auch an den heiklen Stellen leicht gekürzt – sogar in China verlegt, diesem Land, das sich jetzt schneller verändert als jedes andere.

So liefert Xinran – trotz der scheinbar unvermeidlichen Kirschzweige auf dem Cover – ein Stück Oral History, das den Blick auf die chinesische Frau quer durch alle Generationen und Schichten öffnet. Besonders westliche Leser wird es staunen machen, wie sehr traditionelle Geschlechtervorstellungen im Kommunismus überlebt haben. Xinran zeigt mit ihren Geschichten: In China ist heute alles möglich.

Ihr Buch beschreibt Frauen, die heute leben wie vor fünfhundert Jahren, Frauen, die sich am Alten festkrallen und Frauen, die auf Teufel komm‘ raus westlich sein wollen. Sie schreibt aber auch von ein paar Wenigen, die sich aus allem das Beste herauspicken und nach einem ganz eigenen Weg suchen – wie Xinran selbst. Vor dem Hintergrund der Kulturrevolution und ihrer rigiden, aber oft aufgepfropften Gleichstellungspolitik lautet Xinrans Programm: Die chinesische Gesellschaft muss lernen, Achtung vor dem Nächsten zu entwickeln. Die chinesische Frauen müssen lernen, auf ihre Gefühle zu hören. Das ist ein verblüffendes Resümee, weil es anders als oft in westlicher Frauenliteratur nicht um ein Zurück zur ursprünglichen Weiblichkeit geht oder darum, tough zu sein, sondern um die Suche nach einer völlig neuen Identität.

In ihrer Schilderungen hat Xinran auch die eigene Geschichte eingeschlossen. Und vor allem die geht dem Leser nahe und sprengt den Rahmen des gewöhnlichen Sachbuchs. Die Tochter erzählt, wie sich ihre Mutter, die aus einer relativ fortschrittlichen, gebildeten Großgrundbesitzerfamilie stammte, den Rotgardisten anschloss. Xinran schildert das Leben ihrer Mutter als einzigen krampfhaften Versuch, den „infizierten“ Familienhintergrund, ihre Herkunft aus einer „Kapitalistenfamilie“, abzuschütteln. Sie schreibt: „In ihrem Konkurrenzkampf gegen die Männer und ihren Versuchen, den Makel ihres Familienhintergrundes zu überwinden, um in ihrer Karriere und in der Partei Erfolg haben zu können, hatte sie ihre Kinder als Last empfunden.“

Xinran berichtet, wie ihre Mutter sie kurz nach ihrer Geburt zu den Großeltern gab. Bei ihnen wuchs das Kind zunächst behütet auf, bis auch hier die Säuberungen griffen: Plötzlich wurde Xinran von ihren besten Freundinnen bespuckt. Sie wurde fünf Jahre lang in ein Heim für Kinder gesteckt, deren Eltern im Gefängnis sind, und musste unvorstellbare Schikanen und Demütigungen über sich ergehen lassen.

Dass die Kulturrevolution nicht die Gleichberechtigung, die sie versprach, brachte, dass sich Chinas Frauen oft in ihr zerrieben, erzählt auch eine andere Geschichte in Xinrans Buch. Eine Anruferinnen beschreibt darin, wie sie als enthusiastische Anhängerin der Revolution mit einem ranghohen Offizier zwangsverheiratet wurde. Ein Skandal, wenn man bedenkt, dass Mao die arrangierte Ehe 1949 verboten hatte. Doch viele Männer, die im Auftrag der Revolution ihre Familien zurückgelassen hatten, wurden von der Partei neu verheiratet. Bis heute kommt die Regierung für den Lebensunterhalt der verlassenen Frauen auf. Xinran: „Mao hat die Frauen vom Herd geholt, er hat ihnen aber auch Schreckliches angetan.“

In der hektischen Geschäftigkeit auf der Frankfurter Buchmesse, wo sie sich spontan zum Interview bereit erklärt hat, wirkt Xinran zunächst einmal wie ein Fremdkörper: ruhig und konzentriert, freundlich und offen. Im Gespräch am Verlagsstand, bei dem der ganze Trubel ringsum sofort versinkt, erzählt sie als erstes von den Frauen aus aller Welt, die ihr so viele E-Mails schreiben, dass sie zwei Personen einstellen musste, die ihr beim Antworten helfen.

Sie spricht von einer jungen Leserin aus Deutschland, die ihr schrieb, wie sie bei einem Autounfall ihre Beine verlor und daraufhin von ihrem Freund aus Hongkong verlassen wurde; von einer älteren Dame, deren Sohn in Beijing gestorben ist. Frauen wie diese fordert Xinran immer wieder auf, ihr Leid zu erzählen. Und obwohl die Journalistin als Produzentin von Dokumentarfilmen und Kolumnistin beim Guardian ganz Karrierefrau ist, stellt sie nebenher noch Projekte auf die Beine, die ihr weder Geld noch Ruhm einbringen: So ermöglicht sie Studierenden, in China Arbeitserfahrung zu sammeln, oder organisiert ein Hilfsprojekt für chinesische Kinder. Dass sich Xinran am Ende des Gesprächs nicht mit einem professionellen Händeschütteln verabschiedet, sondern mit einer festen Umarmung wirkt alles andere als peinlich. Was durch sie zur rührenden Geste wird, würde den meisten Chinesinnen die Schamesröte ins Gesicht treiben.

Wenn Xinran herzlich wird, dann hat das nichts mit einer Demonstration von Einigkeit unter Frauen zu tun, wie man sie manchmal im Westen erleben muss – worum es ihr geht, ist eher eine Art Emotionalität als Kampfansage. Die Geschichten, die Xinran „ihre“ Frauen hat erzählen lassen, machen vor allem eins deutlich: China ist ein gebeuteltes Land. Hier ist es gang und gäbe, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten. Xinran geht sogar so weit, zu sagen: „Die Chinesen hatten so viele verschiedene Götter, ihre Wertesysteme wechselten so oft, sie haben einfach resigniert. Sie sind sehr kalt und sehr negativ geworden.“

Auch wenn man sich darüber streiten kann, ob es wirklich Werte wie die Achtung des Individuums sind, die es den Leuten in den westlichen Ländern besser gehen lässt als in einem Land wie China, in dem die sozialen Unterschiede größer sind als überall sonst auf der Welt – was Xinran in ihrem Buch schildert, ist brutal. Sie schreibt von Frauen, die als Lumpensammlerin auf der Straße leben und alles Erbettelte ihrem Sohn zukommen lassen, der genug Geld hätte, sie bei sich aufzunehmen – sie erzählt von Frauen, die ihren Töchtern verbieten, über die Vergewaltigung durch den Vater zu sprechen, um den Ruf der Familie zu schützen. Als sie erfuhr, dass sich die Mehrzahl chinesischer Studentinnen als „Privatsekretärinnen“ von Geschäftsmännern über Wasser halten, war sie geschockt. Spricht man Xinran auf selbstbewusste jungen Frauen an, Frauen, wie sie etwa Wei Hui Wie in „Shanghai Baby“ beschrieben hat, Frauen, die keine Tabus mehr kennen, auch keine sexuellen, reagiert sie besorgt.

„China steckt zurzeit in einer Art Pubertät. Es kann nicht unterscheiden, was aus dem Westen gut ist und was nicht. Ich mag Wei Hui, ihren Roman aber mag ich nicht. Viele Chinesen geht es da genauso, deshalb hatte ihr Buch auch eher im Westen Erfolg als in China. Einmal habe ich im Klappentext eines anderen Buchs gelesen: ‚Wenn Sie wissen wollen, wie die chinesischen Mädchen Ihnen Ihren Ehemann stehlen, dann lesen Sie dieses Buch.‘ Das hat hat mich verletzt.“ Xinran wendet sich ganz anderen Geschichten zu: Sie berichtet von Frauen, die bei einem Erdbeben schwer verletzt wurden und von ihren Helfern nicht ins Krankenhaus geschafft, sondern vergewaltigt wurden. Sie schildert den Fall eines geisteskranken Mädchens, das während der Kulturrevolution „zur Umerziehung“ aufs Land verschickt und dort über Jahre hinweg sexuell missbraucht wurde – und von ihren Verwandten, die während dieser Zeit im Gefängnis saßen und erst Jahre darauf das Mädchen wieder zu sich nehmen konnten. Diese Verwandten erzählen Xinran, in welchem Zustand sich das Mädchen nach dieser „Umerziehung“ befand: Es war „am ganzen Körper mit Narben von Bisswunden bedeckt, eine Brustwarze war teilweise abgebissen und ihre Schamlippen waren eingerissen. Gebärmutterhals und Schleimhaut waren schwer beschädigt, und ein Eierstock war abgerissen und fehlte.“ Neben Geschichten wie diesen wirken die wenigen hoffnungsvollen wie die über ein paar Frauen, die bei einem Erdbeben ihre Kinder verloren und darum ein Waisenhaus für Kinder von Erdbebenopfern eröffneten, geradezu marginal.

In der wohl schockierendsten Geschichte in „Verborgene Stimmen“ berichtet Xinran von einer Reise in einen sehr entlegenen Winkel des Landes, in dem die Menschen in unvorstellbarer Armut leben, an denen die Kulturrevolution ebenso vorbeigegangen ist wie die Veränderungen der letzten Zeit. In diesem Dorf gelten Frauen als „Werkzeug für die Fortpflanzung“ und damit als „kostbarste Handelsware“. Oft werden die eigenen Schwestern gegen Ehefrauen aus einem anderen Dorf getauscht. Ist ein Mann arm und hat er keine Frau zum Tauschen, legt er mit ein paar andere armen Männern zusammen, und sie kaufen sich eine gemeinsame Frau. Auf diese Art gebären solche Frauen fast in jedem Jahr ein Kind und leiden durchweg an Gebärmuttervorfall. Dass man in diesem Dorf so wenige Mädchen auf der Straße sieht, schreibt Xinran, liegt nicht daran, dass sie, wie es in China vorkommt, umgebracht würden, sondern daran, dass die paar Kleider, die eine Familie besitzt, von den Söhnen getragen werden.

Ist es voyeuristisch, wenn einem solche Geschichten nahe gehen? Sitzt man da nicht zu einem guten Teil dem Prinzip Mitleid auf, von dem Frauenliteratur so oft lebt – diesem beruhigenden Gefühl, dass unsere Welt zum Glück die bessere sei? Mag sein. Aber was spielt das für eine Rolle, wenn man bedenkt, dass dieses Buch nicht für den Westen geschrieben wurde. Einmal erwähnt Xinran im Gespräch auf der Buchmesse, dass ihre Mutter dieses Buch nicht annehmen könne. Dass es in der chinesischen Gesellschaft nicht üblich sei, Salz in offene Wunden zu streuen. Dieser traditionellen Verdrängung widersetzt sich Xinran. Dass „Verborgene Stimmen“ auch im Westen viele Leser finden wird, hat außerdem einen netten Nebeneffekt: Es wird Geld einbringen. Für ihre nächsten Projekte.

Xinran: „Verborgene Stimmen. Chinesische Frauen erzählen ihr Leben“ (Verlag Droemer/Knaur 2003, 250 Seiten, 18,90 Euro) JANE FRÄNZEL, 23, studiert in Berlin Sinologie, SUSANNE MESSMER, 31, ist Redakteurin im Kulturressort der taz