„Die Vergnügungsbranche hat den politischen Raum erobert“, sagt Herr Ryklin

In Russland regiert eine Partei, die keiner kennt und die sich schon vor den Parlamentswahlen zum Sieger erklärt hat

taz: Herr Ryklin, dieser Wahlkampf ist typisch für die Putin-Ära. Er erinnert einen eher an alte Zeiten als an eine moderne Demokratie. Ist das auch Ihr Eindruck?

Michail Ryklin: Da ist was dran. Die Gesellschaft verschließt die Augen. Vom Tschetschenienkrieg will sie nichts wissen, die zurückkehrenden traumatisierten Soldaten werden mit ihrem Leid nicht nur allein gelassen, nicht einmal ihre Verzweiflung ist öffentlich zugelassen. Das Trauma greift immer weiter um sich. Die vom Bombenkrieg zermürbten Deutschen wollten sich nach dem Krieg auch lieber von Marika Rökk im Kino verführen lassen. Die Russen reagieren heute ähnlich und ziehen sich auf den eigenen Körper zurück. Wo man hinschaut, schießen Körperpflegeeinrichtungen aus dem Boden, mal heißen sie profan Schönheitssalon oder Kosmetikinstitut, aber selbst Schönheitsakademien sind im Kommen. Das ist Ausdruck einer Pathologie.

Die politische Elite unter Putin scheint die Infantilisierung der Bürger noch zu fördern.

Politik findet in Russland zurzeit nicht mehr statt. Es wird Geschäftigkeit simuliert, und was dabei herauskommt, ist kopfloser Aktionismus. 1996 zentrierte sich die Wahl um die vermeintliche kommunistische Bedrohung. Dieses Szenario war übertrieben und zum Teil künstlich, aber die Gesellschaft hat sich darüber politisch auseinander gesetzt. Vor allem gab es alternative Vorstellungen.

Und das ist diesmal anders?

Ja, heute sind das nur noch verschiedene diskursive Redepraxen, hinter denen keine Position mehr steht. Dem Wähler wird eine unterhaltsame Show geboten. Nicht zufällig erlebt der Rechtsradikale Wladimir Schirinowski derzeit eine Renaissance. Er ist Schauspieler, Zyniker und Clown in einer Person. Wenn er irgendwo auftritt, ist Abwechslung garantiert. Gleichzeitig ist er die Inkarnation des Zeitgeistes – der Käuflichkeit. Die Massen wollen ihn sehen. Die Vergnügungsbranche hat den politischen Raum erobert. Obwohl Schirinowski den Gegner beschimpft und beleidigt, wird er trotzdem von einer Talkshow zur nächsten gereicht.

Aber diesmal nehmen Parteien an den Wahlen teil, die wie nie zuvor die Tradition beschwören. Ist das kein Widerspruch?

Parteien wie „Russwetaja“ beziehungsweise „Für die Heilige Rus“, die sich auf die Geburtsstunde des Russentums, den Glauben, berufen, sind im 21. Jahrhundert ein Anachronismus. Die „Russische Partei Rus“ ist überhaupt eine Tautologie. Sie sprechen die Verlierer des Umbruchs an und erklären die säkulare Kultur schlechthin zum Feind. Dieses Aufbegehren fundamentalistischer Kräfte vollzieht sich weltweit. Seit dem 11. September 2001 wird die Angst der Gesellschaften instrumentalisiert und die Rolle der Geheimdienste aufgewertet. Im Westen formieren sich in solchen Fällen Gegenkräfte – in Russland, wo die Kontrolle der Geheimdienste vollkommen fehlt, nicht. Bei uns gibt es keine einzige politische Partei, sie sind allesamt Fiktionen.

Zum Beispiel?

Können Sie sich vorstellen, dass eine Regierungspartei im Westen sich weigern würde, an Wahlkampfdebatten im Fernsehen teilzunehmen? Wohl kaum. In Russland geschieht genau das: Die Kremlpartei „Jedinnaja Rossija“ (JR) hat bekundet, dass die anderen Parteien allesamt Leichtgewichter wären – und hat sich deshalb schon vorab zum Wahlsieger erklärt. So bleibt die Partei ein unbekanntes Wesen. Die Wähler wissen gerade mal, dass Putin sie unterstützt. JR ist eine Phantompartei mit einem amorphen Programm, unbekannter Mitgliederstruktur und einer Symbolik, die Stalin, Breschnew und orthodoxe Kirche unter einen Hut zaubert. Sozusagen unverpackt und lose. Wie all das zu lesen ist, wird offen gelassen. Auch Putin hat im Wahlkampf nicht einen programmatischen Gedanken geäußert.

Offenbar glaubt er, dass die Wahlen ohnehin zu seinen Gunsten ausgehen?

Die politische Elite ist sich sicher, dass diese Wahlen nach ihren Wünschen verlaufen. Wenn nicht, dann gäbe es immer noch die Kraft der „administrativen Ressource“ – sprich der Möglichkeit, von oben nachzuhelfen. Denn der Kreml hat nichts zu befürchten, da der Westen alles schluckt. Putins Russland ist nicht Georgien. Lediglich die Apathie der Massen stellt noch eine gewisse Herausforderung dar.

Wurde deshalb auch der Kampf gegen die Oligarchen entfacht, dessen Höhepunkt ja kürzlich die Verhaftung des Milliardärs Chodorkowski war?

Natürlich. Der Hass gegen die Superreichen ist das Einzige, was die Leute noch verbindet. Wenn das nicht reichen sollte, ließe sich die antisemitische Reserve in der Oligarchengeschichte noch instrumentalisieren. Bezeichnend ist, dass der Kreml sich ausgerechnet den westlichsten Konzern herauspickte, der die Finanzen und Einkommen der Topmanager erstmals offen legt und damit der Bürokratie den Krieg erklärt hat. Sie muss transparente Strukturen fürchten, denn die lassen sich nicht zum persönlichen Nutzen missbrauchen. Hier setzt der Selbsterhaltungstrieb der Elite ein, die mit Zähen und Klauen Russlands Rückständigkeit verteidigt. Die Wähler erkennen das nicht sofort. Denn die postsowjetische Persönlichkeit ist in ihren urtümlichsten Bestrebungen kollektivistisch geprägt.

INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH