Die gute Stube der Opposition

2.500 Menschen wohnen inzwischen auf dem Kreschtschatik, der Kiewer Flaniermeile. Sie schlafen in Zelten und unter vielen orange Fahnen

AUS KIEW HEIKE HOLDINGHAUSEN

Seit Montag wohnt Olessa im Zelt. 20 Jahre ist sie, studiert Geschichte und lebt bei ihren Eltern in Kiew. Aber jetzt, sagt sie, ist keine Zeit für die warme Wohnung und die Uni: „Jetzt geht es um unser Land.“ Sie sitzt im Schlafsack zwischen den Zeltstangen und blickt bibbernd auf die Flaniermeile der ukrainischen Hauptstadt. Es ist kalt in Kiew, minus ein Grad tagsüber, bis minus acht Grad nachts, auf den Zelten liegt Schnee. Anfang der Woche, als der Betrug bei den ukrainischen Präsidenschaftswahlen ruchbar wurde, standen hier 50 Zelte. Inzwischen reihen sich auf dem Kreschtschatik an die 500, in denen etwa 2.500 Frauen und Männer campen.

Die orangene Fahne der Opposition weht auf vielen der grünen und silbernen Zelte, aber auch die der Krim oder die historische Flagge Weißrusslands. Musik und „Juschtschenko, Juschtschenko“-Rufe schallen vom Unabhängigkeitsplatz herüber, dem zentralen Sammelplatz der Demonstranten. „No pasaran“, hat ein Bewohner auf sein Iglu geschrieben, „Born to be free“ ein anderer, und „Liberté, Egalité, Fraternité“. Aus allen Ecken lächelt der vorerst unterlegene Kandidat Wiktor Juschtschenko von Aufklebern. „Wir sind nicht für Juschtschenko“, sagt Daja, „aber wir sind für ehrliche Wahlen.“

Die 20-Jährige ist Marketingmanagerin des Radiosenders Gala, der ein kleines Studio im Camp aufgebaut hat. „Wir wollen den Leute eine Stimme geben“, sagt sie. Auf einer kleinen Bühne könne jeder erzählen, was ihn oder sie bewegt, warum sie da sind. Von überall seien Demonstranten gekommen. Und die aus Donetsk hätten erzählt, wie wütend sie seien – das ganze Land halte sie jetzt für Deppen. Donetsk ist die Hochburg des Ministerpräsidenten Janukowitsch.

Die Parfümverkäuferin Uliana ist nicht zum Reden gekommen, sondern zum Helfen. Sie hat heute frei und verteilt Obst. „Aber ich hätte gar nichts mitbringen müssen“, sagt die Frau mit der pelzumsäumten Kapuze, „es gibt schon so viel.“ Die Kiewer bringen Borschtsch und Tee, Wurstbrote und Krautwickel.

Mit Seilen verbundene Bänke sperren das Camp ab. An einer lehnt Anatoli. Vor drei Tagen ist der Bauer aus der Nähe von Charkiw im Nordosten gekommen. „Eigentlich ist mir Politik egal“, sagt der stämmige Mann in dem ballonseidenen Jogginganzug, „aber so geht’s nicht.“ Zu Hause hätten Chefs ihren Angestellten gesagt, sie würden fliegen, wenn sie nicht für Janukowitsch stimmen. „Das ist keine Freiheit“, sagt Anatoli.

Also hat der 36-Jährige seinen Freund Ruslan angerufen und der wieder einen Freund. Schließlich sind sie zu neunt im Kleinbus nach Kiew gebrettert – mit zwei Zelten im Gepäck, aber ohne Frauen. Krieg ist was für Männer. Klar wird es Gewalt geben, glaubt Anatoli. Waffen haben sie nicht, wozu, sagt er und ballt lachend seine tätowierte Bauernhand.

Auf den Boden zwischen den Zelten hat sich eine dicke Eisschicht gelegt. „Ausgerutscht sind schon viele, gebrochen hat sich noch niemand was“, sagt der Arzt Wiktor, der vor dem Medizinzelt von einem Fuß auf den anderen tritt. Der Notfallarzt aus Lemberg im Westen ist vorgestern gekommen. Er und drei Kollegen behandeln meist Erkältungen und kleinere Verletzungen. In ihrem Zelt, auf dem die weiße Fahne mit rotem Kreuz weht, stapeln sich die Kartons mit Medikamenten, gestiftet von Apothekern. Übermorgen muss Wiktor wieder abreisen. „Ich habe zu Hause auch noch einen Job und Familie“, sagt er grinsend. Die Frage, wie lange die Leute bei der Kälte im Freien wohnen können, versteht er nicht. „Die können das, bis Janukowitsch weg ist.“