Aus Sorge um die Seelsorger

Weil die Atmosphäre so entspannt ist, geht es im Recollectio-Haus auch um Sexualität

AUS MÜNSTERSCHWARZACH KIRSTEN KÜPPERS

In einer Turnhalle in Unterfranken stehen sieben Frauen und elf Männer und halten sich an den Händen. Schwester Julietta Götz legt die Kassette in den Rekorder, sie drückt die Play-Taste. Es dauert einen Moment, bis der Rhythmus der Trommelmusik bei der Gruppe angekommen ist, bis der Mut über die Hemmungen siegt. Dann werfen die Männer die Arme in die Luft, die Frauen stampfen mit den Füßen, die Musik dröhnt. Manche halten die Augen geschlossen. Eine seltsam wilde Versunkenheit.

Dies ist nicht Afrika. Dies ist eine Turnhalle in Münsterschwarzach. Die Fenster haben Thermoverglasung, die Menschen tragen Pullis und Jogginghosen, sie haben Brillen im Gesicht und Ungelenkigkeit in den Hüften. Von Beruf sind diese Männer und Frauen katholische Pfarrer und Ordensschwestern.

Die Turnhalle ist nicht ihre vertraute Umgebung, sie machen das hier nicht aus Gewohnheit. Es ist ein trüber Wochentag im November, und eine Gruppe katholischer Seelsorger tobt mit geschlossenen Augen durch eine Halle. Weil sie die Welt draußen vergessen wollen. Weil sie eine Pause brauchen. „Die Seminarteilnehmer sollen sich frei machen von allem“, sagt Wunibald Müller. Der 53-jährige Theologe und Psychotherapeut leitet das Recollectio-Haus der Abtei Münsterschwarzach. Von Wunibald Müller ist zu erfahren, wie schlecht es den Seelsorgern der katholischen Kirche in diesem Land geht. „Sie sind überarbeitet, sie sind müde, lustlos und depressiv“, sagt Müller. „Immer mehr von ihnen leiden unter dem Burn-out-Syndrom.“

Burn-out ist ein modernes Wort aus Amerika. Dort hat Müller eine Weile studiert. Und aus Kalifornien hat er diese Idee nach Deutschland mitgebracht: Der Gedanke: eine Einrichtung, in der müde Geistliche therapiert werden. 1991 hat er seinen Plan durchgesetzt. Es war nicht einfach. Die Katholische Bischofskonferenz hatte zuerst dagegen gestimmt.

„Aber der Bedarf war ja da“, sagt Müller. Auch die Bischöfe wussten von dem Erschöpfungszustand, der die Kirche von innen her aushöhlt wie ein Ungeziefer, sie wussten von dem psychosomatischen Syndrom, das einmal als Managerkrankheit angefangen hatte und das ihre Seelsorger nun immer häufiger befällt. Viele von ihnen hatten ja selbst damit zu schaffen.

Schuld an der Krankheit ist die Arbeit. Es ist zu viel davon da. Weil immer weniger Männer Priester werden wollen, sind die wenigen für immer größere Gemeinden zuständig. Auch das Fehlen von Anerkennung ist ein Problem. Die Interesselosigkeit einer Welt, in der immer mehr Menschen vom christlichen Glauben abfallen. Früher brachten die Leute dem Pfarrer Respekt entgegen, heute laufen sie zum Buddhismus über. „Es sind Stress und Gleichgültigkeit, die die Priester in diesem Land krank machen“, erklärt Müller.

Bei Johannes Insel aus Soest in Nordrhein-Westfalen war es so. Er ist Pfarrer für die 5.000-Seelen-Gemeinde Sankt Bruno. Und wenn Pfarrer Insel von seinem Beruf erzählt, klingt er wie einer dieser Gehetzten aus den Führungsetagen eines Großkonzerns. Sein Jahr ist voll mit 40 Taufen und 50 Beerdigungen, er hastet von Hochzeit zu Krankenbesuch, dann noch die Gottesdienste. In seinem Kalender drängeln sich Ministrantentreffen, Seniorennachmittage, Pfarrgemeinderatssitzungen und Religionsunterricht. Außerdem muss Insel als Polizei- und Feuerwehrseelsorger ständig erreichbar sein. „Mein Handy hat andauernd geklingelt.“ Ein Schnaufen ist in der Stimme, wenn er davon erzählt.

Der Zustand dauernder Überreizung tat Johannes Insel nicht gut. Der Pfarrer wurde aggressiv, er bekam zu wenig Schlaf, nach jedem Essen musste er sich übergeben, es gab Tage, an denen konnte er nicht aufhören zu weinen. „Eine Art Höllenerfahrung“, sagt Insel über diese Zeit. „Ich dachte, ich bin erst was wert, wenn ich viel leiste.“ Johannes Insel hat sich dann zu einem dreimonatigen Seminar im Recollectio-Haus angemeldet.

„Zu uns kann jeder Geistliche kommen“, erklärt Müller. „Wir hören uns die Probleme an.“ Er sitzt in seinem Büro im Recollectio-Haus, das inzwischen von sieben katholischen Diözesen getragen wird und wo die Kurse ständig ausgebucht sind. „Ausgeschlossen werden nur die Süchtigen. Diejenigen, die abhängig sind von Alkohol, Sex, Drogen oder Pädophilie, nehmen wir nicht auf“, sagt Müller. Er schaukelt sich in seinem breiten Ledersessel zurecht, seinem Therapeutensessel, im Hintergrund plätschert ein Zimmerspringbrunnen. Es mag an dessen beruhigendem Geräusch liegen, dass Wunibald Müller nicht zu merken scheint, dass dieser kleine, hingeworfene Halbsatz kein gutes Licht wirft auf die katholische Kirche. Aber vielleicht ist es ihm auch einfach egal, wenn in der Zeitung steht, dass katholische Priester drogenabhängig sind und Sex mit Kindern bevorzugen. Wunibald Müller hat eine Ausbildung als Psychotherapeut, er hört sich jeden Tag die Geschichten an. Er ist sonst keiner, der unangenehme Wahrheiten scheut.

Das Recollectio-Haus ist ein schmutzig gelber Flachbau, auf dem Klostergelände der Abtei Münsterschwarzach. In der trostlosen Mehrzweckhallenästhetik der 80er-Jahre erwartet die Seminarteilnehmer ein dichtes Programm aus Einzel- und Gruppentherapie. Die Ordensschwestern und Priester sitzen auf Stühlen im Kreis und reden. Sie gucken auf die Gardine und erzählen, bis jeder die begrabenen Lebenspläne des anderen kennt.

Sie hören den Zimmerspringbrunnen und sprechen mit dem Therapeuten, sie schauen auf das Kreuz an der Wand und beten. Sie kneten Figuren aus Ton, malen mit Wachsmalstiften, tanzen zu afrikanischer Trommelmusik. In der Silberschmiede des Klosters hämmern sie einen Becher, oder sie helfen in der Druckerei. Mittags schieben sie das Essen auf kleinen Wägelchen in den Speiseraum. Nachmittags halten sie sich mit Walking und Joggen beschäftigt. Sie meditieren und besuchen Gottesdienste. Müller erklärt: „Hier dürfen sich die Menschen zeigen, wie sie sind, auch wenn es gegen die Norm verstößt.“ Den Seminarteilnehmern sagt er: Tu deinem Leib etwas Gutes, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.

Und weil die Atmosphäre so entspannt ist, geht es im Recollectio-Haus auch um Sexualität. Man kann sich das vorstellen. Elf Männer und sieben Frauen wohnen drei Monate lang in einer Art Wohngemeinschaft zusammen. Sie sind zu sexueller Enthaltsamkeit gezwungen, aus beruflichen Gründen. Seit Jahren. Jetzt machen sie plötzlich den Abwasch zusammen, tanzen, sollen ihren Körper spüren und dürfen über alles reden. „Das Thema Sexualität ist natürlich Teil der Körperarbeit“, erklärt Schwester Julietta Götz. „Wir sprechen Sexualität hier ganz bewusst an“, meint Müller.

Der Pfarrer aus Süddeutschland sitzt auf einem Stuhl. Er hat einen Bart und er räuspert sich oft. Seinen Namen will er nicht sagen. Aber er meint: „Sexualität ist immer eine Schwierigkeit für einen Priester. Alles, was verdängt wird, kommt ja irgendwann hoch.“ Der Pfarrer ist ein erfahrener Mann, über 60, seit bald 40 Jahren macht er diese Arbeit. Er kann erzählen von verstreichenden Gelegenheiten, von Kommunionsschülerinnen, von Selbstbefriedigung und davon, wie es ist, wenn man die Sexualität aus dem Leben ausschaltet. Es sei gut, sagt er, dass die Leute hier einem in diesen Dingen zuhören.

Er räuspert sich, wartet. Zum Beispiel habe er für eine Schwester aus dem Kurs starke Gefühle entwickelt, sagt er dann plötzlich. Er spricht scheu und schnell: „Ich nehme sexuelle Empfindungen in mir wahr.“ Er habe dem Therapeuten Müller davon erzählt. Jetzt gelte es, nicht in die sexuelle Intimität abzurutschen. Gleichzeitig dürfe man „die Kraft der Liebe nicht verdrängen“. Es klingt verzweifelt sachlich, wie er das sagt. Irgendwie ist alles frei und trotzdem verboten.

Müller lehnt in seinem Sessel, der Brunnen macht sein Geräusch. Der Zölibat sei ein großes Problem für die Geistlichen, sagt er. Er erlebt es ja jeden Tag. In den Therapiesitzungen hört er von Sex, von Wünschen und Onanie. Und ihm können sie es ja erzählen. Müller ist für die Lockerung des Zölibats. Er schreibt Bücher mit Titeln wie „Küssen ist beten“ oder „Damit dein Leben Freiheit atmet“. Den Seminarteilnehmern sagt er: „Man mag die Natur mit der Heugabel austreiben. Sie kehrt stets zurück.“ Das ist ein Zitat von Horaz.

Die Bücher und das Horaz-Zitat sind Müllers Art, am Zölibat zu kratzen. Er spricht von der Leibfeindlichkeit der katholischen Kirche, von Sex als einer Quelle der Spiritualität, von Intimität als inniger Erfahrung. Er sagt: „Man muss sich als Mann oder Frau spüren und wahrnehmen können.“ Wem das nicht gelingt, der könne auch die Nähe zu Gott nicht finden. Müller lächelt sein Psychotherapeutenlächeln. Er weiß: Mit solch offenen Worten lehnt er sich weit aus dem Fenster.

Da ist es kein Wunder, dass manche von außen nicht gut über das Recollectio-Haus sprechen. Denn so sind die Menschen. Was sie nicht kennen, machen sie schlecht. Das ist auch in der katholischen Kirche nicht anders. Und so kommt es, dass sich manche aus den unterfränkischen Kirchengemeinden zuflüstern: Wer ins Recollectio-Haus geht, der ist schon kurz vorm Austritt. Wer sich da anmeldet, der hat eine Freundin. Wer da drei Monate verbringt, der spinnt.

Und tatsächlich ist es ja auch so gekommen, dass einzelne Pfarrer oder Schwestern ihren Beruf aufgegeben haben hinterher, dass manche aus der Kirche ausgetreten sind. Und nebenbei kann man sich ja auch wirklich fragen, ob nicht einiges in der Welt aus den Fugen geraten ist, wenn schon Seelsorger zum Therapeuten gehen.

Aber vielleicht geht es auch einfach nur um ein bisschen Ruhe. Darum, dass ein wenig Stille hinübergerettet wird in den Alltag. Bei Pfarrer Insel aus Soest ist das gelungen. Er schaltet sein Handy jetzt ab beim Essen. Ab und zu besucht er eine Ausstellung. In die Sauna geht er regelmäßig. „Ich habe den Ort meines Heilwerdens gefunden“, sagt er. In einer Turnhalle im unterfränkischen Münsterschwarzach ist es passiert.