Die Jugend ringt mit dem Leben

Marc Hofmann hat am Bochumer „prinz regent theater“ das populäre Selbstmörder-Stück „norway.today“ vonIgor Bauersima inszeniert: jung besetzt, auf einer löchrigen Bühne und stets einen Schritt vor dem Nichts

Sie wolle weg, sagt Julie. „Ich meine: so richtig weg! Weg weg!“, schiebt sie hinterher. Sie meint es ernst. Ernst ernst. Weil ihr alles zuwider ist hier, dieses ganze „reaktionäre“ Verhalten. Da passe sie nicht hin, sagt sie. Ja, sie passe nicht mal „unter Lebensmüde.“ Also weg: Hinunter in den Abgrund, der zu ihren Füßen klafft. Ein Sprung, ein Flug, etwa zehn Sekunden lang. Das hat August, ihr Begleiter, ausgerechnet. Zehn Sekunden. Klatsch. Vorbei.

So simpel haben sich die jungen Menschen in Igor Bauersimas Theaterstück „norway.today“ ihren eigenen Tod zurechtgelegt. Doch dann, angekommen auf einer 600 Meter über dem Meer ragenden Klippe, stellt sich der Tod als zäher Gegenspieler heraus. Im Bochumer prinz regent theater, wo das Stück jetzt Premiere hatte, stehen Julie und August auf dem Bühnenplateau, sehen ängstlich in die Tiefe. Sie könnten jetzt springen. Ganz einfach. Aber sie machen es nicht. „Ich dachte, wir schlafen noch mal drüber“, sagt August. Drüber schlafen? Okay. Vielleicht miteinander?

Bauersimas Stück, das bei den Mülheimer Theatertagen den Publikumspreis abräumte und seither landauf, landab gespielt wird, basiert auf dem wahren Schicksal zweier Menschen, die sich im Internet zum gemeinsamen Suizid verabredeten. Mit dieser Szene beginnt auch das Stück. Julie und August sitzen quasi in Tom Haarmanns schlichter wie schlüssiger Bühne, in die rechteckige Löcher gespart wurden, und chatten. Julie sucht jemanden, der auch sterben will. Weil sie es nicht alleine will. Nicht kann? August, hin- und hergerissen, überlegt. Und kommt mit. Was folgt, ist Bauersimas Versuch, die Gründe auszuloten, die junge Menschen in den Freitod treibt.

Regisseur Marc Hofmann hat die Bochumer Inszenierung sinnigerweise jung besetzt. Lina Beckmann und Markus Lerch haben just die Schauspielschule verlassen. Beckmanns Julie ist zunächst sehr verschlossen, sehr kühl. Erst allmählich wird die vermeintlich harte Schale brüchig. Zum Vorschein kommt eine hilflose Frau, die ihren Kopf mädchenhaft auf die Schulter legt, wenn sie „Hallo Oma!“ auf das Abschiedsvideo spricht. Die zu weinen beginnt, weil die Inszenierung des eigenen Todes nicht gelingen will.

August ist anders: Lerch macht aus ihm einen hampeligen Jungspund, der sich mit Kant auskennt, aber nicht mit sich selbst. Er hastet über die Bühne, biegt seinen Leib, jammert, klagt. Das ist oft unweigerlich komisch. Jene Momente allerdings, in denen sich das Innerste nach Außen kehrt, in denen man ahnen kann, welche Kräfte dort walten, gelingen Beckmann authentischer. Was mit an der Figur liegt, die sie verkörpert. Julie ist facettenreicher als August, wenn sie zunächst behauptet, „glücklich“ zu sein. Wenn sie sagt, dass depressive Selbstmörder Waschlappen seien. Warum aber ist sie da? „Ich habe alles gehabt“, sagt sie – und weiß, wie unsinnig das ist. Warum also ist sie da? Sie weiß es selber nicht. Und August schon gar nicht.

So bleibt auch offen, was geschieht mit den beiden, die erst lebensmüde den Gipfel erklimmen, sich dann aber verlieben. Das birgt freilich neue Probleme. Wenn das Zelt aus einem der Bühnenlöcher wächst, die beiden hinein kriechen und sich im Vorspiel verkrampfen – überlebensgroß projiziert auf eine Leinwand. Ob diese Liebe stärker sein wird als die Todessehnsucht? BORIS R. ROSENKRNZ

27., 28.11, 15., 17., 18.12, 20:30 UhrInfos: 0234-771117