Der Kampf um die Köpfe

Holland ist überall (5): Der Islamismus ist die totalitäre Herausforderung unserer Zeit. Es geht darum, ihm das soziale Umfeld und den potenziellen Nachwuchs zu entziehen

Nichts hat zuletzt dem Islamismus so in die Hände gespielt wie Schavans einseitiges Kopftuchverbot

In wenigen Monaten werden es sechzig Jahre her sein, seit Karl Popper, der bedeutende Philosoph des 20. Jahrhunderts, seine berühmte Schrift über „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ veröffentlichte. Der Begründer des Kritischen Rationalismus rechnete in seinem Werk mit jeder Art von Diktatur und Totalitarismus ab. Träger des Fortschritts kann aber nach Überzeugung Poppers kein durch ein „höheres Prinzip“ ermächtigtes, den Menschen entmündigendes Kollektiv sein. Ausschließlich selbst verantwortlich denkende und handelnde Individuen, die, jederzeit dem Irrtum ausgesetzt, gezwungen sind, nach einem besseren Leben zu streben, können dieses Ziel auch erreichen.

Die Freiheitsherausforderung unserer Tage ist der Kampf gegen den Islamismus. Dieser Kampf ist nicht nur ein Kampf gegen Autobomben und Selbstmordattentäter. Er muss auch als ein ideologischer Kampf um die Köpfe verstanden werden. Für Islamisten ist allein der Glaube Grundlage allen Denkens und Handelns. Sie glauben, dass der Koran nicht nur verbindliche ethische Maßstäbe vorschreibt, sondern vor allem konkrete Handlungsanweisungen für die Gestaltung aller Lebensbereiche, von der Politik bis zur Kultur. Demokratie, Aufklärung und Säkularismus werden als Häresie abgelehnt. Der Islamismus erscheint somit wie eine Blaupause der Popper’schen Totalitarismusdefinition.

Dieser Kampf um die Köpfe muss überall geführt werden, auch und gerade in Europa. In Frankreich leben sechs Millionen Muslime, in den Niederlanden etwa eine Million, in Deutschland über drei Millionen. Die Tendenz ist überall steigend. Das ehemals ausschließliche Einwandererphänomen Islam wird mehr und mehr zu einer europäischen Realität. Nur ein kleiner Prozentsatz dieser Menschen sind Islamisten. Dennoch sind es insgesamt Zehntausende. Polizeiliche und geheimdienstliche Maßnahmen können nur ein Aspekt dieses Kampfes sein. Vielmehr muss er auf mehreren Ebenen geführt werden. Es muss auch darum gehen, dem Islamismus das soziale Umfeld und den potenziellen Nachwuchs zu nehmen. Das häufig inhaltsleere Integrationsgerede der vergangenen Jahrzehnte ist vielerorts wirkungslos verpufft. Wir müssen jetzt Ernst machen mit echten Integrationsanstrengungen. Einwanderern müssen unsere Sprache und unsere Werte nahe gebracht und auch konsequent von ihnen eingefordert werden. Wer einzig den Koran als Richtschnur seines Handelns betrachtet, kann keine Heimat in unserer Gesellschaft finden. Dies klar zu formulieren, zu fordern und umzusetzen ist die Aufgabe mutiger Politik und darf auch nicht von einem falsch verstandenen Toleranzgedanken verwässert werden.

Es geht auch nicht nur um den Kampf gegen den „großen Terror“ mit Mord und Totschlag. Der tagtägliche „kleine Terror“ muss ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit gelenkt werden. Wenn muslimische Jugendliche mit einem auch religiös motivierten Geschlechterbild auf den Straßen junge Frauen verbal und körperlich angreifen, wenn muslimische Männer ihre Frauen verprügeln, ihren Töchtern Bildung verbieten und ihnen jede Chance auf ein selbst bestimmtes Leben nehmen oder wenn islamische Würdenträger Homosexuelle als „Schweine“ bezeichnen – muss alles dies als Angriff auf unsere freiheitliche Werteordnung verstanden und entsprechend bekämpft werden. Aufwändig ließ die EU vor einigen Monaten den Antisemitismus unter jungen muslimischen Einwanderern untersuchen und versuchte dann krampfhaft, die erschreckenden Erkenntnisse der eigenen Studie in der Schublade verschwinden zu lassen. So bekämpft man Islamismus nicht, so fördert man ihn.

Auch die Mehrheitsgesellschaft muss sich öffnen. Der Islam ist Teil unserer Gesellschaft – ob das jedem gefällt oder nicht. Er muss sich in unsere Ordnung integrieren und in der Mitte der Gesellschaft wiederfinden – er muss dies aber auch dürfen. Voraussetzung dafür ist die Integrationsbereitschaft der Aufnahmegesellschaft. Wieso müssen sich allerorten Bürgerinitiativen bilden, wenn irgendwo eine Moschee errichtet werden soll? Müssen nach bald einem halben Jahrhundert der Einwanderung Menschen noch immer in Gewerbegebieten, in stillgelegten Fabrikhallen beten? Ist das nicht eine Schande für unsere Kulturnation?

Der Staat hat selbstverständlich das Recht, in seinem Bereich verbindlich vorzuschreiben, wie seine Beamten auftreten und sich äußern. Die Neutralität des Staates ist ein hohes Gut. Gezielt das islamische Kopftuch zu verbieten und alle anderen religiösen Symbole an Schulen zu erlauben, zeugt aber eben nicht von Integrationsbereitschaft, sondern von einem gefährlichen Ausgrenzungsvorsatz. Ein solches einseitiges Verbot führt den staatlichen Neutralitätsanspruch ad absurdum und treibt auch integrationsbereite Muslime in die Arme von Radikalen.

In diesem Sinne hat kein Vertreter deutscher Politik dem aufgeklärten Islam in Deutschland mehr geschadet und Islamisten mehr in die Hände gespielt als Baden-Württembergs Kultusministerin Annette Schavan. Ausgerechnet von einer Spitzenfunktionärin des Zentralkomitees der Katholiken Neutralität und das notwendige Fingerspitzengefühl zu erwarten war wohl etwas naiv. Dass nun Gerichte peu à peu das Schavan’sche Stückwerk demontieren, stellt zum Glück eine Rückkehr zur Ordnung unserer Verfassung dar. Das gesellschaftspolitische Porzellan wieder zu reparieren dürfte indes weit schwieriger werden.

Nach Popper sind geschlossene Systeme, die sich gegen Kritik von innen und außen immunisieren, zum Fortschritt unfähig. Sie unterdrücken die geistige Unabhängigkeit des Menschen und seine Kreativität – alles das, was den Menschen als Menschen ausmacht. Diese Definition geschlossener Systeme passt zu einer ganzen Reihe arabischer Staaten. Sie könnte aber auch mühelos auf real existierende islamische Diasporagemeinschaften angewandt werden, ob sie nun in Berlin, Rotterdam oder Paris zu Hause sind.

Wer einzig den Koran zur Richtschnur seines Handelns macht, der kann bei uns keine Heimat finden

Offene Gesellschaften dagegen, die mutig das Risiko der Widerlegung noch der scheinbar unerschütterlichsten Wahrheit auf sich nehmen und die sich nicht von einer politischen oder religiösen Doktrin leiten lassen, erweisen sich als erfolgreicher. Wann ist der letzte Nobelpreis für Chemie, Physik oder Biologie in die arabisch-muslimische Welt gegangen?

Offene Gesellschaften sind aber vor allem auch humaner, weil sie den Menschen in seiner ganzen Vielfalt Mensch sein lassen. Den Humanismus der offenen Gesellschaft und die Gefahren der geschlossenen Gesellschaft gerade der jungen Generation unter muslimischen Einwanderern zu vermitteln ist Aufgabe der Politik. Es ist keine einfache Aufgabe, aber es ist eine unverzichtbare. Der Mord an Theo van Gogh darf nicht als Menetekel in die europäische Freiheitsgeschichte eingehen. Aber er ist eine deutliche Warnung. Karl Popper ist heute wahrlich aktueller denn je.

MEHMET DAIMAGÜLER