Intellektuelles Gift

Nur auf den ersten Blick zweckfrei, in Wirklichkeit hoch politisch: Die Kunsthalle Kiel präsentiert eine Werkschau des „documenta-11“-Teilnehmers Luis Camnitzer

Ein Kuchen ausRasierschaum,ein Pin-up mit Rahmen aus Zigaretten-Kippen

Kaum merkbar dem sich einschleichenden Wahnsinn verfallen: Das wäre eine Lesart dieses Ausstellungsrundganges. Denn die retrospektiv angelegte Werkschau von documenta-11-Teilnehmer Luis Camnitzer in der Kieler Kunsthalle lockt mit perfider Konsequenz von eingangs eher formalen Surrealismen in eine Welt, die über spielerische Kunstanalysen weit hinausgeht.

In räumlicher und zeitlicher Folge stellt der von Lateinamerika geprägte, in New York lebende Künstler seine Arbeit starker literarischer und politischer Aufladung in den Dienst moralisch-ethischer Stellungnahme – bis hin zu Graphik-Serien über Folter.

Dabei ist die meist subversive Kulturkritik des in Deutschland geborenen Künstlers nur selten so plakativ wie bei dem bluttropfenden Briefkasten, der auf das Pekinger Tienanmen-Massaker verweisen soll.

Luis Camnitzer wurde 1937 in Lübeck geboren, die Familie emigrierte 14 Monate später nach Uruguay. Nach Studien in Montevideo und München zog er 1964 nach New York und näherte sich dem US-amerikanischen Konzeptualismus an. Textarbeiten wie Dies ist ein Spiegel: Du bist ein geschriebener Satz oder konzeptuelle Vertauschungen von Objekten und Bildern mit jeweils anderen Auf- und Unterschriften stehen für diese Phase.

Immer wieder formuliert Camnitzer Probleme anhand von Spiegeln: Ihm sind sie mögliches Tor zu einer anderen Realität. Über einen Werkkomplex zur Bedeutung der Künstlersignatur und der Wertschöpfung im Kunstmarkt erreichen die Besucher eine in den „white cube“ des Museums hineingebaute schwarze Zelle. Bei der El Mirador genannten Installation, erstmals 1996 bei der Biennale von São Paulo gezeigt, ist durch Sehschlitze ein gegenüber der realen Welt verschobener Innenraum zu erblicken: Hier versinken Flaschen im Boden und das eiserne Bettgestell scheint die Wand zu durchdringen. Hier ist alles auf Beobachtung angelegt, und doch droht es zu entschwinden.

Bei den Installationen Patentanmeldung und Zanoobia geht es darum, wie Opfer und Täter in einem System irregeleiteter Kreativität befangen sind. Erstere zeigt einen Planungstisch, auf den zwei Konstruktionszeichnungen geätzt sind. Es handelt sich um ein von Fritz Sander 1942 erfundenes Fließbandkrematorium, dem der Patentstatus verweigert wurde, weil es als „geheime Reichssache“ galt. Zusammen mit Fotos, die Graswurzeln von unten zeigen, evoziert Camnitzer hier in eigentlich sachlicher Form ein fortwirkendes Grauen.

Auch der Zanoobia gewidmete Raum versprüht sein intellektuelles Gift erst auf den zweiten Blick: Ein Kuchen aus Rasierschaum, ein Pin-up mit Zigarettenkippenrahmen und andere Objekte verweisen auf die Besatzung eines Giftmüllschiffs, das 1988 monatelang von allen Häfen zurückgewiesen wurde.

Luis Camnitzer baut Inszenierungen, die erst als zweckfreie Objektcollagen amüsieren, bei genauerer Befragung jedoch tief verstören. Das gilt auch für die Arbeit The Office von 2001.

Der Schreibtisch über den Zeitungshaufen ist aus Gasrohren gebaut, der Himmel in einer Kiste gelagert, Landkarten befinden sich auf der Unterseite der Schuhe. Alles sehr eigenartig, aber hat man die Bilder aus der Ost-Berliner Stasi-Zentrale im Kopf, doch wieder gar nicht so fremd. Das Lateinamerikanische an der Kunst von Luis Camnitzer ist dabei der Glaube daran, das die Dinge auf magische Weise ein Eigenleben entfalten können, neben, ja gegen die Menschen, die im Umgang mit ihnen manchmal geradezu hilflos werden. Das Politische an dieser Kunst ist, diese Symptome mindestens ernst zu nehmen. HAJO SCHIFF

Luis Camnitzer – Werke von 1966 bis 2003, Eine Ausstellung des Schleswig-Holsteinischen Kunstvereins in der Kunsthalle zu Kiel; Di–So 10.30–18, Mi bis 20 Uhr; bis 11.1.2004