„Die Polizei muss bürgernah vor Ort agieren“

Übergriffe auf Beamte finden statt, wenn Menschen sich ungerecht behandelt fühlen, weiß Claudius Ohder,Professor für Kriminologie. Er befürchtet eine Zunahme der Konflikte durch soziale und ethnische Segregation

taz: Herr Ohder, Gewalt ist nicht gleich Gewalt. Was bedeutet die hohe Zahl der Gewalttaten gegen Polizisten im Klartext?

Claudius Ohder: Die Zahlen sagen, dass bestimmte Konflikte mit der Polizei verstärkt mit Gewalt ausgetragen werden. Zwar ist für einen Polizisten das Risiko, getötet zu werden – auch wegen wirksamer Eigensicherungsmaßnahmen und verbesserter Ausrüstung –, nicht höher als für einen Normalbürger, aber auch banale Attacken wie angepöbelt und angespuckt, beschimpft und beleidigt zu werden, sind Gewalt und auf Dauer schwer zu ertragen. Solche Angriffe bergen vor allem die Gefahr, dass sich bei häufig betroffenen Polizisten eine Distanz und sogar gewisse Feindseligkeit gegenüber dem Bürger entwickelt.

Häufigster Tatort gegen Polizisten ist überraschenderweise der eher gutbürgerliche Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Auffällig ist, dass Tatverdächtige nichtdeutscher Herkunft mit einem überproportional hohen Anteil vertreten sind. Haben Sie dafür eine Erklärung?

Zu Gewalt gegen Polizisten kommt es beim Einschreiten bei häuslicher Gewalt und bei Verkehrskontrollen – allgemein dann, wenn der Einzelne das Gefühlt hat, ihn treffen ungerechtfertigte oder sogar willkürliche Maßnahmen mit gravierenden Folgen. Das kann in allen Bereichen der Stadt passieren. Deshalb muss es nicht verwundern, dass auch „bessere“ Bezirke hohe Fallzahlen aufweisen.

Darüber hinaus können Gewalteskalationen auch eine soziale Komponente haben. Subjektiv erlebte Problemlagen werden an der Polizei nach dem Motto abreagiert: Die Beamten sind die Repräsentaten eines Systems, mit dem man sich in keiner Weise verbunden fühlt. Im Ergebnis sehen sich Polizisten in Quartieren mit einer hohen Gewaltbereitschaft konfrontiert, in denen ein eher rauhes soziales Klima herrscht. Oft genug geht dieses mit hohen Immigrantenanteilen einher.

Die Beamten sind also eine Art Prellbock?

Durchaus. Der Staat ist in diesen Gegenden in anderer Weise nicht mehr so präsent, die Politik und ihre Macher sind nicht greifbar. Politische und soziale Partizipation ist gescheitert und wird auch nicht mehr angestrebt. Der Unmut und das Gefühl „Ihr kümmert euch nicht um uns“ schlägt um in Gewaltszenarien.

Was bedeutet das in Zeiten leerer Kassen in Berlin für die Zukunft?

Es ist zu befürchten, dass in Berlin die soziale und ethnische Segregation und damit auch die Konflikte zunehmen werden. Die Erfahrungen aus Ländern, in denen diese Entsolidarisierung tiefer geht, zeigen, dass sporadisch aufflammende soziale und ethnisch unterlegte Unruhen fast immer mit relativ heftigen Gewalteskalationen zwischen Polizeikräften und den Bewohnerschaften bestimmter Ghettobereiche und Quartiere zusammenfallen.

Die Polizisten sind also gut beraten, sich warm anziehen?

Völlig hilflos ist die Polizei nun auch wieder nicht. Sie bemüht sich ja bereits und muss dies in Zukuft noch stärker tun, bürgernah zu agieren und vor Ort präsent zu sein. Sobald sich Polizei zurückzieht und im Extremfall nur noch hochgerüstet und mit Blaulicht durch die Straßen braust, werden solche Konfliktlagen nur noch geschürt.

Von umgekehrter Gewalt, Polizei gegen Bürger, spricht kaum noch jemand.

Nach wie vor gibt es sicherlich auch ein rüdes Auftreten von Polizisten. Das ist ein Dauerproblem. Dass davon nicht mehr soviel geredet wird, liegt aber auch daran, das dieses Problem von den Führungsebenen stärker als früher zur Kenntnis genommen und als Aufgabe angenommen wird. Das ist eine Frage des polizeilichen Selbstverständnisses. Man hat erkannt, dass die Polizei auch ein Dienstleister ist und mit den Bürgern zurechtkommen muss.

INTERVIEW: PLUTIONIA PLARRE