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: Mit den Schlichtern aus Polen und Litauen holt sich die Ukraine Europa ins Haus

Die Präsidenten Polens und Litauens, Kwaśniewski und Adamkus, sind gestern, vom scheidenden Präsidenten Kutschma eingeladen, in Kiew eingetroffen, um dort ihre Vermittlertätigkeit aufzunehmen. Ein normaler Vorgang unter nahen und entfernteren Nachbarn? Keineswegs, vor allem nicht, was die Rolle des polnischen Präsidenten angeht.

Es gilt, sich vor Augen zu halten, dass zwischen Polen und der Ukraine jahrzehntelang um das östliche Galizien, also die heutige westliche Ukraine mit ihrer Hauptstadt Lwiw (polnisch Lwow) erbittert gerungen wurde. Zu den Verdiensten des Solidarność-Lagers gehört es, nach 1990 den Verlust Lwows innerlich akzeptiert, den nationalen Graben übersprungen und die Grenze mit der Ukraine anerkannt zu haben. Hieran knüpft Aleksander Kwaśniewski an.

Seine Politik gehorcht zwar dem politischen wie ökonomischen Interessen Polens. Sie ist aber darüber hinaus Ausweis einer veränderten Mentalität. Ihr kommt es auf gemeinsame demokratische Überzeugungen an und darauf, dass sich auch die ehemals verfeindeten Gesellschaften beider Länder annähern. Kwaśniewskis Vermittlungsauftrag folgt diesem demokratischen Imperativ, er bringt „Europa“ stärker ins Haus, als es die Vermittlungsbemühungen der EU tun.

Kwaśniewskis Plan für Kiew mutet auf den ersten Blick wie ein schaler Aufguss der polnischen Erfahrungen des Jahres 1989 an. Aber er ist der heutigen Situation der Ukraine angemessen. Klar, der Vorschlag, neben der Überprüfung der Wahlergebnisse und dem Verzicht auf Gewalt einen runden Tisch einzurichten, bedeutet auch einen Kompromissangebot an die herrschende Machtelite um Janukowitsch. Der runde Tisch soll den Clanchefs und ihren Erfüllungsgehilfen in der östlichen Ukraine keine Bestandsgarantie geben, aber immerhin die Zusicherung eines gesicherten, schrittweisen Rückzugs. Das Projekt runder Tisch bezieht in seine Rechnung ein, dass auch die Oligarchen des Ostens über eine Klassenbasis verfügen, dass sie, wenngleich scheinhaft, eine Arbeiterschaft vertreten, die bei einem Wahlsieg Juschtschenkos den neoliberalen Durchmarsch samt seinen sozialen Folgen befürchtet.

Der runde Tisch – das ist die Verhandlungslösung. Aber, wie Lenin einst so richtig sagte: „Es gibt Kompromisse und Kompromisse.“ CHRISTIAN SEMLER