AUSGEHEN UND RUMSTEHEN VON TIM CASPAR BOEHME
: Schöner Verfall, mit Grillwurst und Joint

Hochkultur im Berghain? Schwinden des Exzesses? Alles halb so schlimm

Muss man sich Sorgen machen, wenn ein Berliner Club in den deutschen Feuilletons auf einmal Dauerbrennerstatus bekommt und die ersten Journalisten sein Ende durch allzu großes Behagen an der Kultur nahen sehen? Vielleicht muss man das, und dann wäre es nur konsequent, gar nicht mehr über diesen Ort zu schreiben, um sich nicht hinterher vorwerfen zu müssen, am Niedergang mitschuldig zu sein.

Was aber tun, wenn man sich am Wochenende ins Berghain begeben hat und von dort berichten soll? In diesem Fall bleibt einem nichts anderes übrig, als Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen, einschließlich aller Konsequenzen. Nur so viel noch: Der Exzess schwinde langsam aus dem für Entgrenzung bekannten Club, lautete die Diagnose in einer großen deutschen Tageszeitung. Stattdessen gebe es dort immer mehr Kunst. Und die baut auf Triebverzicht, wie man bildungsbürgerlich ergänzen könnte.

Ist das Berghain also mittlerweile so aufregend wie die Philharmonie? Ja, so ist es, und es gibt Beweise dafür. Wie den am Sonntag besuchten „elektroakustischen Salon“. Allein der Titel: Geht es noch gesetzter, kulturell gesättigter? Höchst suspekt ist auch die Anfangszeit von biederen 20 Uhr. Tatsächlich läuft, als wir um halb neun eintreffen, längst ein DJ-Set. Einige Menschen liegen völlig dekadent auf gefüllten Kunststoffsäcken, getanzt wird schon gar nicht. Also erst einmal in den Biergarten und schauen, wie da die Stimmung ist. Draußen ist es so friedlich wie unprätentiös, zum Bier lässt sich Grillgut bestellen. Passt nicht so ganz ins Verfeinerungsbild, aber Sushi ist für Freiluftbereiche nun mal nicht sonderlich geeignet.

Alles in allem scheint sich eher eine Praterisierung des Berghain abzuzeichnen. Nur dass es hier mehr Tunten gibt. Die Wurst schmeckt gar nicht schlecht. Wenn man sich ein wenig umsieht, muss man feststellen, dass viele der Gäste weniger nach Hochkulturbetrieb als nach Clubszene aussehen. Vielleicht ist die feindliche Übernahme ja doch nicht so weit fortgeschritten.

Und das, obwohl ein Musiker angekündigt ist, der für distinktionswillige Trendgänger höchst attraktiv sein dürfte: Flying Lotus, Hiphop-Produzent aus Los Angeles, der im vergangenen Jahr ein wirklich tolles Album vorgelegt hat. Bis zu Beginn des Abends war da immer noch diese Unsicherheit gewesen, ob das Konzert denn überhaupt stattfinden würde, zweimal zuvor hatte der Mann seinen Auftritt in Berlin abgesagt. Doch kaum hat man an ihn gedacht, setzt er sich auch schon an einen der Nebentische und erweckt nicht den Eindruck, unverrichteter Dinge wieder verschwinden zu wollen.

Drinnen geht gerade das kunstwillenverdächtige Vorkonzert zu Ende, dessen Ende mit artigem Applaus bedacht wird. Kurz darauf steht Flying Lotus auf der Bühne und begrüßt sein Publikum mit einem gutmütig stumpfen Beat. In seiner Mikrofonansprache verkündet er, er werde diese Musik für den Rest des Abends spielen, wenn er nicht sofort einen Joint bekomme. Seinem Wunsch wird rasch entsprochen, und die Klänge werden schlagartig verdrehter, flirrender, aber auch treibend-aggressiver. Von der Lautstärke gar nicht zu reden. Das weitgehend berghaintypische Publikum steht dicht gedrängt vor der Bühne und will sich nicht der Etikette des Abends beugen, sondern fängt an zu tanzen, manche Zuhörer geraten gar in Ekstase.

Auch der Künstler hat sichtlich Spaß, er grinst mit geschlossenen Augen. Vielleicht ist der Untergang ja doch noch nicht da. Wenn er in Gestalt so schweißtreibender Konzerte wie dieses kommt, dann soll er unser Freund sein.