Es lebe das Kollektiv

Nach drei Marcelinho-Toren und einem 3:2 in Wolfsburg darf Hertha BSC den Blick vorsichtig nach oben richten. Trainer Falko Götz betont die Leistung seiner gesamten Mannschaft. Erst die habe Marcelinhos Torreigen ermöglicht. Und der hätte außerdem gut noch zwei Tore mehr erzielen sollen

AUS WOLFSBURG PETER UNFRIED

Wir befinden uns ja bekanntlich im Herbst des Kollektivfußballs. Grade hat man sich dank pädagogischer Hilfe aus Mainz daran gewöhnt, dass Haufen von anscheinend allenfalls mediokren Fußballern Freude und Punkte bringen können – wenn man sie nur gut organisiert. Aber nun kommt Marcelinho und schießt mit drei spektakulären Toren das 3:2 von Hertha BSC inWolfsburg praktisch allein heraus.

Wenn das kein Starfußball ist? Falsch. Ganz falsch. Marcelinho, sagt sein Trainer Falko Götz, „hat davon profitiert, dass wir weitere starke Spieler haben, die Laufarbeit geleistet und für ihn Räume aufgemacht haben“. Der Erfolg in Wolfsburg beruht auf einer „neuen Qualität“ des von ihm im Sommer übernommen Teams: Nach Verlust einer 2:0-Führung und zwischenzeitlichem Wolfsburger Ausgleich (Thiam, 50., Brdaric, 69.) nicht zusammenzubrechen, sondern „noch mal gegenhalten zu können“. Stimmt.

Man darf aber sagen, dass schon auch Götz’ Idee entscheidend war, mit Marcelinho als zweitem Angreifer neben Nando zu agieren. Den Wolfsburgern „weh tun“ wollte Götz damit, den zu Hause meist engagiert angreifenden VfL auskontern, den schnellen, dribbelstarken Marcelinho in Abschluss-Situationen bringen. Das gelang.

Allerdings auch, weil Wolfsburg den Verlust der eingespielten Innenverteidigung nicht kompensieren konnte. Statt des gesperrten Argentiniers Facundo Quiroga brachte Trainer Erik Gerets zum ersten Mal in dieser Saison von Beginn an Maik Franz. Dem fehlte zumindest die Spielpraxis und die Bindung an den Kollegen Hofland, wenn nicht Grundsätzlicheres.

Dazu summierten sich Fehler, die tatsächlich mal das Attribut „individuell“ verdienten. Der eigens wegen Marcelinho als zusätzliche Absicherung ins Team beorderte Hans Sarpei legte das 1:0 auf (16.), Franz vertändelte beim entscheidenden 2:3 (74.) den Ball gegen Marcelinho selbst. Den einzigen Hertha-Assist verbuchte Marx, der vor dem 2:0 (47.) Petrov an der Mittellinie den Ball wegnahm und zum Brasilianer passte. Es waren seine Saisontore 6, 7 und 8. Und er erzielte sie nicht allein, weil er nicht anders konnte, sondern weil es ihm seine individuelle Klasse erlaubte, im entscheidenden Moment stets etwas besonders aus dem linken Fußballgelenk zu schütteln. Aber Götz hielt ihn am Boden. „Der Trainer hat gesagt, ich müsse fünf Tore machen“, sagte Marcelinho hinterher. Fünf Chancen hatte Hertha, fünfmal war Marcelinho allein aufs Tor zugelaufen. Aber, fand er: „Drei Tore sind auch okay.“ Aber, na ja, er habe „schon bessere Spiele gemacht“. Falls das stimmt, kann man nur sagen: Schade, dass man die nicht gesehen hat.

Bisher war Herthas Saison dominiert von – geplanter – Mediokrität, einer Vorliebe für Remis, Heimschwäche und einer Abneigung gegen Toreschießen, vor allem durch (den) Stürmer. Nun hat man nach Schalke ein weiteres Topteam in dessen Stadion geschlagen, ist zwar weiter 9., hat aber bis auf weiteres den Superlativ „bestes Auswärtsteam“ – und möglicherweise doch eine Perspektive nach oben.

Der VfL Wolfsburg dagegen hat zwar seit gestern mit Exnationalspieler Thomas Strunz einen neuen für Fußball verantwortlichen Geschäftsführer; aber er hat auch zum ersten Mal seit Mitte September den Champions-League-Platz (1 oder 2) verloren. Und dafür eine echte Perspektive nach unten. Vordergründig ist die überwunden geglaubte Fehleranfälligkeit der Defensive Grund für die zweite Heimniederlage der Saison. Dahinter steht die fehlenden Tiefe des Kaders. Und der starke Verdacht, dass im Gegensatz zur Hertha in Erik Gerets’ Team die Balance zwischen dem angestrebten Kollektivfußball und der Nutzung des dortigen exzeptionellen Starfußballers Andres d’Alessandro nicht stimmt.