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: Die Mehrheit übt sich in Demut

Russland ist müde – das ist die eigentliche Botschaft der Dumawahl. Gefährdet ist nun, was mühselig in den Jahren des demokratischen Aufbruchs errichtet wurde. Die überwältigende Zustimmung für die nationalistischen Parteien belegt, dass die Russen nicht viel vom Experimentieren mit Freiheit, Selbstbestimmung und Rechtsstaat halten. Stattdessen bevorzugen sie einen „Sonderweg“, wie sie ihn seit zwei Jahrhunderten nennen. Der Westen kennt dafür einen anderen Begriff: den des Obrigkeitsstaates.

KOMMENTARVON KLAUS-HELGE DONATH

Drei Aspekte bestätigen das Klischee: Das Regime übte sich in Zynismus, apathisch blieb die Hälfte der Bevölkerung den Urnen fern, und insgesamt ein Drittel der Bürger entschied sich für vorauseilenden Gehorsam und Demut: Sie delegierten ihre Interessen an eine Macht, die sich um den Bürger nicht schert. In dieser Klientel ist der Glaube an den guten Zaren ungebrochen.

Machtinstinkt und Irrationalität beherrschen das politische Handeln in Russland. Mythen und Realitätsverweigerung gedeihen in dieser Öffentlichkeit vortrefflich. Selbstkritik und Selbstreflexivität kennt die russische Gesellschaft nicht, ebenso wenig wie einen analytischen Diskurs. Wenn Putin nach Terroranschlägen sagt: Es herrscht keine Gefahr – dann reicht das. Russland ist ein Land der Erzähler, in dem das gesprochene Wort mehr zählt als die Tat. Das unterscheidet das Riesenreich vom restlichen Europa.

Und auch die Bereitschaft, das Recht einem vom Neid gespeisten Gerechtigkeitssinn zu opfern. Damit haben Kreml und radikale Parteien den Bürger nicht nur geködert: Dieser urrussische Instinkt beherrscht seit Putin wieder das politische Handeln. Der Kreml hat dem Bürger vorexerziert, dass Moral, Wissen und Leistungsbereitschaft keine Voraussetzungen für Erfolg sind. Das ist die Quelle des Zynismus, der die Atmosphäre in der russischen Gesellschaft verpestet.

Der passive Teil der Gesellschaft hat bei dieser Wahl den Akzent gesetzt; 1.000 Jahre Obrigkeitsstaat sind nicht in einem Jahrzehnt zu überwinden. Dennoch ist Russland nicht verloren. Unterhalb der politisch-institutionellen Ebene hat sich eine Menge getan. Mit dem Scheitern der Reformerparteien erhält nun die außerparlamentarische Bürgergesellschaft Neuzugänge erfahrener Politiker, für die in der Duma kein Platz mehr ist. Die Gegenöffentlichkeit existiert weiter, nur etabliert sie sich künftig vollständig außerhalb des Parlamentes.